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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Wir, Du, Ich und die Gesellschaft

Das blaue vom Himmel heruntergeholt ...
„Die Gesellschaft“ ist ein Stichwort aus der Soziologie. Es bedeutet zunächst fast gar nichts: eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen Merkmalen. Teils haben sie diese Merkmale, weil sie miteinander aufgewachsen sind, andernteils haben sie sich anhand dieser Merkmale gefunden.

Gerade las ich, den Satz „Die Gesellschaft ist in uns“. Ich halte dies für eine menschlichere Sicht als das, was die Soziologen meinen. Die Gesellschaft ist nichts Abstraktes, obgleich sie eine skurrile Eigendynamik entwickeln kann. Jede Kampagne, auch die Kampagnen für das „Gute“ sind Massenphänomene, die am Ende nicht mehr das ausdrücken, was die Personen im Volk denken und fühlen.

Wir erschaffen die Gesellschaft - du und ich und viele andere

Im Grunde müsste es umgekehrt sein: „Die Gesellschaft“ müsste aus uns erwachsen, denn es sind unsere Eigenschaften, die das prägen, was wir „die Gesellschaft“ nennen.

Falschmünzer des Geistes

Typisch für all die Falschmünzer und Ignoranten im Volk ist ja, dass sie gar nicht „zur Gesellschaft“ gehören wollen, weil es ihnen dann unmögliche wäre, sie anzugreifen.

Es ist auch schwer in einer Zeit, in der „Wir“ und „die anderen“ immer mehr durcheinandergewirbelt werden. Bei Merkels „Wir schaffen das“ war nicht klar, was „unsere“ Aufgabe war. Und „wir“ hatten erhofft, dass Frau Merkel das tut, was Politiker tun müssen: den fruchtbaren Boden für unser Handeln zur Verfügung zu stellen. Das hat sie nur sehr bedingt getan.

Nur wir sind "wir"

Auf der anderen Seite gibt es Dinge, die nur „wir“ tun können, nämlich unsere Chancen nutzen. Wenn ich heute zu Dutzenden Wahlplakate sehe, auf denen zu lesen ist: „Sie hatten 30 Jahre Zeit“, dann ist das der blanke Unsinn. „Wir“ hatten 30 Jahre Zeit – und manche von „uns“ haben diese Zeit auch genutzt. Dabei spielt überhaupt keine Rolle, ob wir „Ossis“ oder „Wessis“ waren – die Politik hat die Voraussetzungen geschaffen. Und sie schafft sie jeden Tag aufs Neue. Wir sind aufgerufen, sie mit Leben zu füllen.

Verteidigen wir die Presse- und Informationsfreiheit

Zum Beispiel die Presse- und Meinungsfreiheit. Merkwürdig, dass ausgerechnet manche Menschen aus dem Rechtsspektrum behaupten, sie sei in Gefahr.

Übrigens meinen diese Leute nicht einmal die ARD oder das ZDF, sondern auch auch unsere relativ zahmen und harmlosen, überaus bürgerkonformen Tageszeitungen. Vermutlich finden sie darin ihren Hass nicht wieder, denn Hass ist das, was viele von ihnen antreibt.

Groll und Neid

Diejenigen, die sich zu fein sind, öffentlich zu hassen, haben oftmals einen geheimen Groll, der vom Neid getrieben wird. „Nun haben wir 30 Jahre Wiedervereinigung, aber warum sind wir nicht gleich, wie das Grundgesetz es vorsieht?“

Das hätten sich die Bayern auch fragen könne, als sie noch wirtschaftlich am Boden lagen. Und mancher agile Norddeutsche fragt sich, warum ausgerechnet die behäbigen Schwaben so große wirtschaftliche Erfolge haben. Und dies nach 70 Jahren BRD …. Es ist absolut sinnlos, so zu fragen.

Du bist es, ich bin es - wir sind es, auf die es ankommt

Es wäre wirklich Zeit, allen zu sagen: „Du bist die Gesellschaft, weil du ein Teil von ihr bist. Und wir sind die Gesellschaft, weil wir uns daran freuen dürfen, gemeinsam zu handeln.“ Wenn es so wäre, dann würden wir nicht mit den Fingern auf andere zeigen.

Falsche Empathie

Wenn jemand über seinen „Zustand“ oder seine „Befindlichkeit“ lamentiert, neigen wir dazu, ihm zuzuhören, vielleicht sogar zu trösten. Manche(r) hat sich als „mitfühlend“ erwiesen. Manchmal haben wir sie eingeladen, hin und wieder sind wir vielleicht sogar ihre (seine) Avancen hereingefallen oder haben gar aus Mitleid mit ihnen geschlafen.

Das alles mag ein Akt der Empathie sein. Nun ist das Wort zwar hübsch, und es lässt ich auch recht nett durch „Mitgefühl“ übersetzen. Und dennoch ist Empathie im normalen Leben (ich rede nicht von Notfällen) nur dann gut und richtig, wenn zwei Umstände zusammenkommen:

- Der andere muss bereit sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas zu verändern.
- Ich selbst muss wissen, ob ich das, was der andere mir mitteilt, ertrage.


Jeder Psychoanalytiker oder Lebensberater wird euch das bestätigen. Das Schlimmste wäre, sich in die Person des anderen hineinzuversetzen, Parallelen zu entdecken und dann anzunehmen, man sei selbst in einer ähnlichen Grenzsituation.

Eine Bloggerin (1) schrieb dieser Tage:

Ich denke ständig darüber nach, wie wenig dazu gefehlt hätte, um in einer ähnlichen Situation wie W. geraten. Es kann sein, dass ich mich in ihrer Situation sehe, möglicherweise sehe ich in ihr mein Spiegelbild.


Ob wir nun mit sehr viel Glück oder durch Klugheit und Weitsicht nicht „in die Situation gekommen“ sind, spielt keine Rolle. Wir erinnern und, dass wir einmal schwach waren, aber auch, dass wir die Situation gemeistert haben.

Doch das Wichtigste fehlt noch: Nein, du bist nicht „die Andere“. Nur die „Andere“ ist die „Andere“, und Du bist Du. Ich bin nicht unbedingt ein Anhänger der Gestaltpsychologie, aber sie hat richtig erkannt, dass „Ich“ nicht „Du“ bist.

Was konkret heißt: Du kannst mit einem Menschen Mitleid haben. Du kannst ihn dabei begleiten, das zu ändern, was ihn bedrückt. Aber er ist nicht wie du. Und du bist nicht wie er. Punkt.

Und sollte der (die) Andere dich aushöhlen: Rette dich selbst, bevor du dich zerstören lässt.

(1) Alle privaten Blog-Zitate werden bei "sehpferd" sprachlich so verändert, dass eine Rückverfolgung unmöglich ist.

Begegnung mit Nummer

„Wo ist denn hier die 14?“

Ich blickte auf, sah eine etwas angejahrte Blondine, offenbar recht aufgeputzt, und schon setzte sie nach:

„Sie sind doch ein Einheimischer?“

Ich bejahte, obgleich ich hier zwar zuhause und genetisch verwurzelt bin, bin aber keinesfalls „einheimisch“. Zugleich begriff ich, dass an dem Haus, vor dem wir nun beide standen, eine Nummer 12 angebracht war. Sie musste also wohl die Nummer 14 in derselben Straße suchen.

Ich bedauerte, es nicht zu wissen. Das nächste Haus kann in dieser Gegend Nummer 12a, 13 oder gar 14 sein – inklusive der Ruine am Ende der Straße.

Die Dame murmelte verächtlich: „Ein Einheimischer, der nichts weiß“, und schüttelte ihr graues Haupt. Ich denke, sie fand die Nummer 14 noch irgendwo – falls es sie gab.

Das Emotionale, das Sentimentale

Dieser Tage fragte man mich, ob ich den Unterschied zwischen „Sentiment“ und „Emotion“ erklären könne. Für einen Schriftsteller sollte dies leicht sein, nicht wahr?

Und es ist wirklich ganz einfach: Die Emotion ist die Gefühlregung, die nicht näher definiert sein muss. Das „Sentiment“ hingegen ist die Auswirkung, die sich der eigenen Erkenntnis oder dem Blick der Anderen öffnet. Übrigens ist das Wort „Emotion“ ziemlich neu. Es fristete noch im späten 19. Jahrhundert ein kümmerliches Dasein, und erst im Rausch des aufkommenden Interesses für die Psychoanalyse wurde es populär. Auf Deutsch hieße es: „Gefühle“, das ursprüngliche „Sentimentale“ nennt man „Empfindungen“.

Wenn sich die Bedeutung eines Worts wandelt

Nun ist die Sprache allerdings wandelbar, und schon im 18. Jahrhundert wurde aus dem, was aus den Gefühlen heraus zu den Sinnen gelangt, als „übermäßig“ oder gar „unecht“ beschrieben. Das hat etwas mit der Einstellung jener Zeit zu tun, die der Gefühlswelt im Alltag wenig Raum gab – wenn man einmal von Dichtung und Musik absieht. Im 19. Jahrhundert trat dann ein, was viele Denker schon zuvor befürchtet hatten. Die Romantik verkleisterte mit ihrer Rührseligkeit die echten Gefühle – und dies führte endgültig dazu, das „Sentimentale“ abzuwerten und in die Abteilung „Kitsch“ zu verfrachten.

Die moderne Sprache ist wesentlich klarer: für Emotionen sagen wir „Gefühle haben“ und für das Sentimentale „Gefühle zeigen“.

Über introvertierte Menschen und Begegnungen

Schon mal einen introvertierten Menschen kennengelernt? Dann lies auf jeden Fall weiter. Dieser Artikel ist zugleich eine Ergänzung zu meinem Beitrag „Triff einen introvertierten Mann“ in der „Liebeszeitung“.

Ich beginne mit zwei Zitaten. Das erste werden ihr nicht kennen – es stammt von einer englischsprachigen Lyrikerin mit deutsch-österreichischen Wurzeln, Sylvia Plath. Das Zweite ist ebenso bekannt, wie es verkannt wird. Sein Autor war mit Sicherheit introvertiert, dazu ein brillantener Mathematiker und Kinderbuchautor. Sein Künstlername war Lewis Carroll.

Sehr viele Menschen sind in sich verschlossen wie Schachteln, doch wenn man sie öffnete, könnten sie sich wundervoll entfalten – du müsstest dich nur für sie interessieren.

Oh, du Feuerlilie“, sagte Alice …, „wenn du doch nur reden könntest.“ „Wir können schon“, sagte die Feuerlilie, „solange jemand da ist, mit dem es sich lohnt.


Beide Sätze können sowohl auf introvertierte Partnersuchende (Frauen wie Männer) angewandt werden als auch auf auf alle anderen Menschen, die sich gegenüber den „Mainstream“ der hektischen und geschwätzigen Gesellschaft verschließen.

Reden - nur, wenn es sich lohnt

Der oder die Introvertierte reagiert zumeist genau wie die „Feuerlilie“, das heißt, er oder sie muss das Gefühl haben, dass es sich lohnt, mit dem anderen zu sprechen. Wer introvertiert ist, achten auf Fakten und auf glaubwürdige Gefühle … das heißt, er lehnt jede Form von „Geschwätz“ ab, das zu nichts führt, als die Zeit totzuschlagen. Das übliche Gerede in seiner Umwelt nimmt er zunächst als Worte, dann als Geräusche und schließlich als Lärm wahr.

Wahres Interesse

Wenn jemand mit einem/einer Introvertierten spricht, muss er sich ehrlich und wahrhaftig interessieren. Wer introvertiert ist, wird sich dann ein Wort oder einen Satz hängen und nachfragen: „Wie geht es dir dabei?“ Oder „was meinst du damit?“ Daran merkt der Introvertierte, ob das Gesagte nur eine nachgeplapperte Phrase ist oder ob die Person sich etwas dabei gedacht hat.

Das bedeutet aber auch: Gespräche mit Introvertierten gehen bei ihnen selbst – und gegebenenfalls auch bei dir – ans „Eingemachte“. Wenn du deinen Geist und deine Psyche nicht bis in die Tiefen öffnen willst, sondern stattdessen an der Oberfläche herumfischt, wird ein introvertierter Mensch schnell die Freude am Gespräch verlieren.

Doch wenn du es ernst meinst und dein Gegenüber achtetest, werdet ihr beide dabei erheblich gewinnen, so wie es Sylvia Plath prophezeite.