Schon merkwürdig – sobald „Forscher von der Harvard Universität“ etwas veröffentlichen, glauben vereinzelte Zeitschriften, sie könnten über etwas Sensationelles berichten.
Nein, es ist nicht neu. Es ist auch nicht sensationell. Es entspricht ganz der uralten These:
Wer fragt, führt die Kommunikation an.
Und dann werden Weisheiten als „neu“ aufgetischt, die für mich ein ganz alter Hut sind. Ich zitiere aus einer der nahezu gleichlautenden Quellen (hier: 1):
Richten Sie den Fokus stattdessen auf die andere Person. Geben Sie ihnen das Gefühl, dass Sie daran interessiert sind, ihr authentisches Selbst zu sehen, und beginnen Sie mit den kleinen Dingen, um Vertrauen aufzubauen. Stellen Sie nach und nach persönlichere Fragen, halten Sie ihre Tonlage immer entspannt.
Das alles ist wahr, und es ist zugleich nichts Neues. Neu daran ist nur, dass es im Rahmen von Dating erneut „festgestellt“ wurde. Übrigens nicht gestern, sondern 2017. Die viel zitierte Autorin (2) des angeblichen „Originalartikels“ war übrigens spät dran. CNBC (3) veröffentliche ihn bereits früher. Die Original-Studie ist über HBS (4) erhältlich.
Heute ist es mal wieder geschehen: Da fragt eine Person (vorgeblich ernsthaft, versteht sich), wie es denn alte Menschen schaffen können, sich selbst zu verändern, ohne ihre Identität aufzugeben.
Da ist es, dieses Wort: „Identität“. Mein altes Psychologielexikon, das ich immer noch aufbewahre, kennt das Stichwort nicht. Ganz anders als das deutsche Wikipedia. Der fleißige Student, der es möglicherweise verfasste, nutzte rund 5.200 Wörter, um es zu erklären, hat eine nahezu unendliche Liste von Literatur aufgeführt und nennt 18 Quellen für sein Elaborat.
Wie so oft, mag sich dies alles für einen Psychologiestudenten eignen, doch der Informationsgehalt bleibt dennoch dürftig. Denn die Menschen der Jetztzeit wollen ja wissen, wie ein Begriff heute definiert werden kann. Da bleibt er (oder sie) nach dem Genuss von Wikipedia hilflos zurück.
Immer noch hilflos, was Identität für euch bedeutet?
Es ist etwas schwierig, den aktuellen Begriff zu definieren. Etwas Hilfe zeichnet sich ab, wenn wir den Dorsch (2) zu Hilfe nehmen. Wen die etwas geschraubten Definitionen nicht stören, wird dies lesen:
Um eine bestimmte Identität für sich beanspruchen zu können, muss der Mensch sie in sozialen Interaktionen aushandeln. (…) Dies bedeutet auch, dass Identität unter wechselnden Lebensbedingungen immer wieder neu angepasst werden muss und Identitätskonstitution eine lebenslange Aufgabe ist.
Was letztlich heißt: Identität ist veränderbar. Und wenn man es genau nimmt, so verändert sie sich ein Leben lang durch Kommunikation.
Jeder kann sich verändern, ohne seine Identität zu verlieren
Und mit dieser einfachen Erkenntnis kann ich euch für heute verlassen, nicht ohne die Frage auch hier noch einmal zu beantworten: Jeder kann es schaffen, die Sicht auf sich selbst zu verändern und Veränderungen an sich selbst vorzunehmen. Die Mehrzahl der Veränderungen erfolgt durch die notwendige Anpassung so gut wie automatisch. Im Alter kann dies eine geringere Rolle spielen als in den mittleren Jahren – aber selbstverständlich verliert auch ein alter Mensch seien Identität nicht durch Veränderungen.
Nahezu jeder Mensch hat eine Idee davon, wie er sich fühlt. Doch das Interessante daran ist, dass er von seinen „Gefühlen“ normalerweise ganz wenig bemerkt. Das liegt daran, dass uns die meisten Gefühle nicht einmal erreichen. Sie werden aufgenommen, verwehen wieder und hinterlassen nichts. Nur diejenigen Gefühle, die uns bewegen, die uns also beschäftigen, beflügeln oder beunruhigen kommen „bei uns an“. Wir nennen sie deshalb auch „Emotionen“.
Wir wissen kaum, was wir fühlen - aber was wir denken
Fragte man eine Person, was sie in einer aktuellen Situation „gefühlt“ hat, dann ist sehr wahrscheinlich, dass er mit einem Gedanken antwortet, aber weder mit einem Gefühl noch mit dem, was ihn emotional bewegt hat. Der Grund liegt darin, dass dies nicht zum Repertoire des gewöhnlichen Mitmenschen gehört.
Fragt man beispielsweise: „Wie hast du dich gefühlt, als deine Frau dich verlassen hat?“ Dann ist die Antwort meist weder ein Gefühl noch eine Gemütsbewegung, sondern vielleicht: „Ich wusste gar nicht was, ich dazu sagen sollte ... ich habe mich nur hingesetzt und die Wand angestarrt.“
Sehr gebildete, gefühlsbetonte Menschen können solche Gefühle zwar in Worte fassen - doch wirken ihre Sätze seltsam blass. Zum Beispiel: „Ich fühlte eine unendliche Leere, als sie mich verließ.“ Auch diese Person sagt uns nicht, was sie fühlt - sie sagt nur, dass sie die Leere als Gefühl wahrnimmt. Beginnt man einen Satz mit „ich fühlte ...“, dann beschreibt man ja nicht das Gefühl, sondern einen Zustand, in dem man sich befindet. „Ich wurde sehr traurig, als sie mich verließ“ ist authentisch, „ich fühlte eine große Traurigkeit, als sie ging“ ist bildungssprachlicher Unsinn. Man kann „Gefühle nicht fühlen“.
Die Liebe rational erfühlen?
Kürzlich fragte mich jemand, ob das Fühlen nicht doch etwas rational Erklärbares sei. Genauer gesagt ging es dabei um einen ganzen Gefühlskomplex, nämlich „die Liebe“ und die Frage lautete: Ist Lieben eine rationale gedankliche Tätigkeit? Obwohl es mindestens 100 verschiedenartige Antworten darauf gibt, was Liebe ist oder jedenfalls sein könnte, habe ich nie gehört oder gelesen, dass Liebe eine „rationale Tätigkeit“ ist.
Gefühle sind teil eines Prozesses - nicht nur ein Impuls
Das Beispiel mag zeigen, wie unscharf die Definitionen von Gefühlen, Empfindungen und Beweggründen tatsächlich sind. Nimmt man dann noch den ganzen Prozess dazu, vom eingehenden Reiz über die Botenstoffe bis zu zärtlichen oder gar heftigen Handlungen, so kommen wir mit einer einzigen Wissenschaft überhaupt nicht weiter.
Und insofern - seid kritisch, wenn euch jemand „wissenschaftliche“ Erkenntnisse über „Gefühle“ anbietet. Zumeist ist die „Wissenschaft“ dann nur vorgeschoben, um zu verschleiern, dass man zu einseitig geforscht hat.
Was ist Psychologie? Was behandelt sie und wie behandelt sie es? Die meisten von uns haben in der Schule wenig davon gehört, und was sie gehört haben, ist meist weniger als ein Blick aus dem Fenster.
Doch was sagen Lexika dazu? Um dies zu demonstrieren, habe ich diese drei einfachen Definitionen aus vielen anderen herausgesucht.
Die Psychologie ist die empirische Wissenschaft vom ...
Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, die ...
Die Psychologie gilt als eine empirische Wissenschaft, die ...
Dann folgt eine recht pauschale Erklärung, nämlich dass es sich dabei um eine Lehre „vom Erleben und Verhalten des Menschen“ handelt.
Wenn du jetzt sagst: „Das ist ein weites Feld“, dann gebe ich dir recht.
Das Erleben und Verhalten des Menschen ist eine sehr dehnbare Definition, schließt sie doch alles ein, was der Mensch ist, denkt, fühlt und im Handeln ausdrückt.
Das führt dazu, dass wir manchmal glauben (oder vielleicht auch glauben sollen), dass die Psychologie uns nahezu „alles“ erklären kann, was Menschen bewegt. Das ist mit Sicherheit falsch, denn vieles in unserem Denken und Fühlen spielt sich im Verborgenen ab. So ist „das Denken“ durch die Wissenschaft (nicht nur durch diese) nicht vollständig zu erklären. Und „die Gefühle“ beruhen auf einer eigenartigen Mixtur aus der Evolution, der Körperchemie und den Ereignissen, mit denen wir sie in Verbindung bringen. Und unser Handeln? Es folgt gelegentlich einem festen Plan, um bei anderer Gelegenheit spontan anders zu agieren. Warum das so ist, kann in vielen Situationen nicht vorhergesagt werden. Mal ist es das Spiel der Triebe, das uns antreibt – dann ist es wieder die Barriere des Verstands, der uns hindert.
Kurz: Die Psychologie ist nicht die einzige Wissenschaft, die versucht, dem Denken, Fühlen und Handeln auf die Spur zu kommen. Sie macht vielmehr Anleihen bei anderen Wissensgebieten, und sie folgt (was Psychologen nicht gerne hören) auch oft den Strömungen des Zeitgeistes. Dazu kommt, dass sie zahlreiche unabweisbare Annahmen enthält. Die meisten stammen aus längst vergangenen Zeiten. Dann und wann versucht man, Irrtümer zu beseitigen. Sie leben aber dennoch weiter, weil man die entsprechenden Autoren immer noch glühend verehrt.
Das Fazit? Hört genau hin, wer was sagt und welche Quellen es dafür gibt. Namen wie „Sigmund Freud“ oder „Carl Gustav Jung“ zu erwähnen, ist einfach und bedeutet letztendlich gar nichts.
Das ist alles, was ich in der Kürze der Zeilen zu sagen habe.
Heute ist es wieder einmal passiert: Da schrieb jemand durchaus in meinem Sinne, dass wir heute zu oberflächlich argumentieren und „man glaube plausibel Klingendes, ohne es zu hinterfragen“ und überhaupt „frage man nicht mehr.“ Es las sich, als bedaure es der Autor /die Autorin.
Aber dann stand da noch ein Satz: „Klassische Bildung ist überhaupt kein Thema“.
Dieser Teilsatz hat mich dann dazu gebracht, den Begriff „klassische Bildung“ zu hinterfragen, denn in der heutigen Zeit ist es schwer, mit solchen pauschalen Oberbegriffen („Klassische Bildung, „klassische Musik“, „klassische Literatur“) noch etwas anzufangen. Also sollte es sich lohnen, nachzufragen oder den Begriff selbst zu „hinterfragen“. Und ich erlaubte mir, nachzufragen:
Was versteht du unter klassischer Bildung?
Als Antwort erhielt ich einen Link zu Wikipedia, wo mich Herr von Humboldt streng ansah. Der Artikel wirkt, wie so oft bei Wikipedia, in verstörender Weise unverständlich und enthält tatsächlich den Begriff, der sich letztlich auf eine bestimmte Bildungstheorie beschränkt, die als „klassisch“ definiert wird.
Nur: Danach hatte ich überhaupt nicht gefragt.
Gebildete Kreise nutzen oft abgenutzte Phrasen
Und nun erschließt sich, wie in manchen angeblich „gebildeten“ Kreisen oftmals diskutiert wird. Nämlich mit Phrasen, die dort bekannt und angeblich „klar definiert sind“, die aber keinen Ausschluss darüber zulassen, was wirklich gemeint ist. Die selbst ernannten Eliten werfen mit Begriffen herum, mit denen sie sich hervortun wollen – das mag ihr gutes Recht sein. Aber es verhindert den gesellschaftlichen Dialog.
Damit noch etwas weniger Ernstes in diesen Artikel kommt, hier ein Auszug aus „Meyers Lexikon“ von ca. 1890:
(Bildung) … wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwickelung des Menschen gebraucht. In dieser Anwendung ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, teilt es mit den meisten Lieblingswörtern desselben das Schicksal, dass sein Gepräge, wie bei einer abgegriffenen Münze, sich verwischt hat und sein Sinn vieldeutig geworden ist.
Ein letzter Satz? Es kann durchaus kühner sein, etwas zu hinterfragen, als etwas zu behaupten.