Schon merkwürdig – sobald „Forscher von der Harvard Universität“ etwas veröffentlichen, glauben vereinzelte Zeitschriften, sie könnten über etwas Sensationelles berichten.
Nein, es ist nicht neu. Es ist auch nicht sensationell. Es entspricht ganz der uralten These:
Wer fragt, führt die Kommunikation an.
Und dann werden Weisheiten als „neu“ aufgetischt, die für mich ein ganz alter Hut sind. Ich zitiere aus einer der nahezu gleichlautenden Quellen (hier: 1):
Richten Sie den Fokus stattdessen auf die andere Person. Geben Sie ihnen das Gefühl, dass Sie daran interessiert sind, ihr authentisches Selbst zu sehen, und beginnen Sie mit den kleinen Dingen, um Vertrauen aufzubauen. Stellen Sie nach und nach persönlichere Fragen, halten Sie ihre Tonlage immer entspannt.
Das alles ist wahr, und es ist zugleich nichts Neues. Neu daran ist nur, dass es im Rahmen von Dating erneut „festgestellt“ wurde. Übrigens nicht gestern, sondern 2017. Die viel zitierte Autorin (2) des angeblichen „Originalartikels“ war übrigens spät dran. CNBC (3) veröffentliche ihn bereits früher. Die Original-Studie ist über HBS (4) erhältlich.
Heute ist es wieder einmal passiert: Da schrieb jemand durchaus in meinem Sinne, dass wir heute zu oberflächlich argumentieren und „man glaube plausibel Klingendes, ohne es zu hinterfragen“ und überhaupt „frage man nicht mehr.“ Es las sich, als bedaure es der Autor /die Autorin.
Aber dann stand da noch ein Satz: „Klassische Bildung ist überhaupt kein Thema“.
Dieser Teilsatz hat mich dann dazu gebracht, den Begriff „klassische Bildung“ zu hinterfragen, denn in der heutigen Zeit ist es schwer, mit solchen pauschalen Oberbegriffen („Klassische Bildung, „klassische Musik“, „klassische Literatur“) noch etwas anzufangen. Also sollte es sich lohnen, nachzufragen oder den Begriff selbst zu „hinterfragen“. Und ich erlaubte mir, nachzufragen:
Was versteht du unter klassischer Bildung?
Als Antwort erhielt ich einen Link zu Wikipedia, wo mich Herr von Humboldt streng ansah. Der Artikel wirkt, wie so oft bei Wikipedia, in verstörender Weise unverständlich und enthält tatsächlich den Begriff, der sich letztlich auf eine bestimmte Bildungstheorie beschränkt, die als „klassisch“ definiert wird.
Nur: Danach hatte ich überhaupt nicht gefragt.
Gebildete Kreise nutzen oft abgenutzte Phrasen
Und nun erschließt sich, wie in manchen angeblich „gebildeten“ Kreisen oftmals diskutiert wird. Nämlich mit Phrasen, die dort bekannt und angeblich „klar definiert sind“, die aber keinen Ausschluss darüber zulassen, was wirklich gemeint ist. Die selbst ernannten Eliten werfen mit Begriffen herum, mit denen sie sich hervortun wollen – das mag ihr gutes Recht sein. Aber es verhindert den gesellschaftlichen Dialog.
Damit noch etwas weniger Ernstes in diesen Artikel kommt, hier ein Auszug aus „Meyers Lexikon“ von ca. 1890:
(Bildung) … wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwickelung des Menschen gebraucht. In dieser Anwendung ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, teilt es mit den meisten Lieblingswörtern desselben das Schicksal, dass sein Gepräge, wie bei einer abgegriffenen Münze, sich verwischt hat und sein Sinn vieldeutig geworden ist.
Ein letzter Satz? Es kann durchaus kühner sein, etwas zu hinterfragen, als etwas zu behaupten.
Schwafeln über Frauen und Männer? Besserwisserei aus holden Kaffeekränzchen oder bierseligen Stammtischen? Belehrungen aus den Elfenbeintürmen? Wie ist es eigentlich wirklich mit dem „Ja zum Sex“?
Ein Artikel zum Thema „Sexualpädagogik“ erhellt, was wirklich fehlt: der Konsens. Und der muss ausgehandelt werden. Allein dies fällt Schweizern und Deutschen offenbar schwer. Ich höre schon die Empörung: „Die Moral (Ethik oder wie ihr es sonst nennt) steht doch fest, daran gibt es doch nichts zu verhandeln.“
Wer das sagt, lebt hinter dem Mond. Denn die „ehernen Regeln“ von damals gelten längst nicht mehr. Erst, wenn etwas ausgehandelt wurde, gilt es für beide (oder alle) Personen, die an etwas beteiligt sind.
Woran es fehlt, ist also die Fähigkeit, einen Konsens herzustellen. Man kann auch sagen: „Die Einsicht in den Sinn, eine Übereinstimmung zu finden“.
Ich zitiere dazu mal die Aussage einer Fachfrau (1):
Wenn du Konsens im Alltag umsetzen kannst, kannst du es eher in der Sexualität. Und darum musst du von dem Moment an, wo du anderen Menschen begegnest, Konsens lernen.
Das wird manchem Zeitgenossen schlecht über die Zunge gehen – obwohl es bereits täglich geschieht. Das Merkwürdige daran ist: Von „Konsens“ ist oft ausschließlich die Rede im Zusammenhang mit Sexualität. Dann geht es um das „Nein“, das „Ja“ oder die Kommunikation vor dem Sex schlechthin.
Mangel an Kenntnissen über Kommunikation schadet uns allen
Da sowieso kaum jemand weiß, was Kommunikation bedeutet, wird versucht, die Übereinkunft zu problematisieren: Das „Ja“ zum Sex muss irgendwo hinterlegt werden, der Sex muss also „verwaltet“ werden. Sodann muss jeder Einzelschritt bei komplexeren Sex-Ritualen mindestens verbal bestätigt werden. All dies stammt von Menschen, denen der Realitätsbezug abhandengekommen ist. Ein Begriff wie „Nur-Ja-heißt-Ja“ ist eine viel zu hölzerne Formulierung, wenn es um Emotionen geht. Allein durch diese formelhafte Ausdrucksweise wird verschleiert, dass „Konsens durch Kommunikation“ nicht bedeute „Ja“ zu sagen, sondern vor allem, damit auch „Ja, gerne“ zu meinen. Und das gilt nun wirklich nicht ausschließlich für Sex.
Das Magazin „Das Lamm“ (2) sagt dazu:
Nicht einmal der Lehrplan 21, der immerhin den Unterricht ab dem Kindergarten bis und mit der Sekundarschule in der Deutschschweiz vereinheitlichen sollte, sieht Konsens im Sexualkundeunterricht vor, geschweige denn im Unterricht überhaupt.
Das Ziel heißt eigentlich: "Verhandeln vor Handeln"
Das Fazit? Wissen, was man wirklich will, einen Ausdruck dafür zu finden und darüber zu kommunizieren, ist offenbar das Wichtigste. Und auch unser deutsches Ausbildungswesen muss sich darauf einstellen, „Verhandeln, vor Handeln“ als wichtiges Element des Zusammenlebens zu betrachten. Nachdem dies gesagt ist: Ich habe hier mehrfach das Wort „Konsens“ gebraucht, das eigentlich zu einer eher einfältigen Bildungsbürgersprache der Vergangenheit gehört. Im Grunde reicht völlig „sich einig zu sein“ oder „sich einig werden über…“. Und dazu ist eben eine Verhandlung nötig. Wer das begriffen hat, weiß eigentlich alles.
„Im richtigen Leben besteht nicht alles aus Nullen und Einsen.“ Der untersuchende Urologe will damit sagen: „So ganz genau weiß niemand, wie eine Genesung verläuft.“
Damit rennt er bei mir offene Türen ein. Aber er sagt dies, weil er in meiner Patientenakte gelesen hat, dass ich einst IT-Organisator war.
Manchmal muss ich mich mit Menschen auseinandersetzen, die „digital“ nicht verstanden haben. Es bedeutet in der allgemeinsten Formulierung: in „erkennbaren Zeichen“ und nicht mehr. Wie diese Zeichen gestaltet werden, ist keine Frage der IT-Technik.
Erkennbare Zeichen werden von Menschen und Maschinen verstanden, die über den gleichen Zeichenvorrat verfügen. Das heißt, das Zeichen, das „A“ verwendet, muss auch „B“ bekannt sein. Ob Rauchzeichen, Trommel, die Gebärdensprache der Taubstummen, ein Werk von Hegel oder Flaggensignale: Beide Teile, Sender und Empfänger, verfügen über den gleichen Zeichenvorrat.
Analog und digital - am Bespiel der Uhr
Etwas muss klar sein: Das Gegenteil von „digital“ ist „analog“. Nehmen wir eine Uhr mit Zifferblatt. Die meisten von ihnen arbeiten „innerlich“ digital, aber wir lesen sie „analog“ ab. Dazu ist ein bestimmtes Wissen nötig, das jedes Kind lernt, und es ist eine Art „Spezialwissen“, dass nur für Uhren mit Zifferblatt gilt. Eine Uhr mit Ziffer (Digits) lässt sich hingegen ohne dieses Wissen ablesen.
Digitale Kommunikation
Das Problem mit dem Wort „digital“ beginnt schon bei der „digitalen Kommunikation“. Lexika wollen uns oft erklären, das sei Kommunikation über digitale Medien, also beispielsweise der E-Mail-Verkehr. Das ist unlogisch, denn dann wäre ein handgeschriebener Brief, der im Briefkasten landet, „analoge Kommunikation“. In Wahrheit ist es die Kommunikation, die über erkennbare Zeichen (oder Zeichenketten) abläuft und damit nahezu identisch mit der „verbalen Kommunikation“. Allerdings ist nicht jede Kommunikation in bekannten Zeichen „verbal“, sodass auch dieser Begriff hinkt. Zum Verständnis: Eine „analoge“ Kommunikation besteht aus Gestik und Mimik, und sie entstand entwicklungsgeschichtlich vor der Sprache. Allerdings werden mit zunehmender Zivilisation nicht mehr alle diese „analogen“ Gesten verstanden.
Digital und analog im Denkprozess
Umstritten ist, ob unsere Gedanken schon in der gleichen „Sprache“ stehen, wenn wir sie noch nicht ausgesprochen haben. Ich votiere für „Nein“. Wer kreativ ist, wird wissen, dass viele Gedanken, vor allem aber Gefühle, ziemlich formlos sind. Die Leistung des Menschen besteht nun darin, dieses „analoge“ Gedankengut zu digitalisieren, also in Worte zu fassen. Wahrscheinlich wissen viel von euch, wie schwer ihnen dies fällt. Immerhin ist dies ein Thema, bei dem noch Forschungsbedarf besteht.
Digital und analog in der Fotografie
Noch bis vor wenigen Jahren galten Digitalfotos als „minderwertig“. Heute haben selbst Lichtbilder, die mit Handy-Kameras erzeugt wurden, eine ganz ausgezeichnete Qualität. Die meisten Nutzer von Analog-Kameras arbeiten zudem mit der Digitalisierung, um Bilder zu speichern und weiter zu bearbeiten. Ein weiterer Vorteil der Digitalfotografie ist die Möglichkeit einer gezielten Nachbearbeitung, sie es bei Farben, Konturen oder Kontrasten, die sich bei der Aufnahme nicht beherrschen ließen.
Digital und analog in der Musikwiedergabe
Hellhörig bin ich erst geworden, als ich eine damals noch recht neue Aufnahme von „Scheherazade“ (Rimski-Korsakow) auf CD hörte. Alles klang ungeheuer transparent und dennoch entsprechend wuchtig. Das Geheimnis hieß „Digitalisierung“, und sie begann bereits bei den verwendeten Mikrofonen. Auf diese Weise gab es wenig Verluste, und das, was am Ende bei mir ankam, verlangte nur noch nach zwei Dingen: einem Umsetzer von „digital“ in „analog“ und einem Schallwandler (aka Lautsprecher). Der ist nach wie vor das schwächste Glied in der Übertragungskette, weil er das analoge elektronische Signal in Verbindung mit der vorhandenen Raumakustik in Schall zurückverwandelt. Insofern kann „klein, kompakt und preiswert“ immer die bessere Lösung sein.
Musikwiedergabe: ein weites Feld für Ideologen
Musikwiedergabe ist ein Thema für Physiker, Ingenieure, Techniker und Akustiker - und leider auch für Ideologen, besonders, wenn es „digital“ wird. Mit der Materie habe ich mit jahrelang beschäftigt. Denn viele Aussagen über „Musikwiedergabe“ beruhen auf Unkenntnis, Ideologie oder Interessen der Hersteller. Der wesentliche Weg zur Wahrheit ist einfach: Es gibt keine authentische „analoge“ Musikübertragung außer bei Konzerten in Hörweite der Musiker. Ob Grammofon, Luxus-Schallplattenspieler, CD oder Streaming – was herauskommt, ist mindestens zwei Mal, häufig aber deutlich öfter gewandelt, bevor es an eure Ohren gelangt. Wer Schallplattenspieler für Geräte zum analogen Musikgenuss hält, der mag das tun. Aber was wirklich passiert, ist eine rein mechanische Abtastung des Mediums, die nur mit einem enormen Aufwand und sehr viel Pflege zu brauchbaren Ergebnissen führt. Ob es sich lohnt? Möglicherweise schon deshalb nicht, weil alles, was vor dem Schneiden und Pressen der Platte geschah, aus digitalen Quellen kam.
Hattet ihr Freude am Lesen? Habt ihr etwas dazu zusagen? Dann mal los!
Als Paul Watzlawick 1977 sein Buch „Die Möglichkeit des Andersseins“ schrieb, meinte er die Kommunikation zwischen den Psychotherapeuten und deren Klienten. Denn die Menschen, die Psychotherapeuten aufsuchen, leiden darunter, anders zu sein. So lautet jedenfalls die einfachste Definition ihrer Beweggründe.
Der Klient, so lesen wir,
Leidet am ungelösten Widerspruch dazwischen, wie die Dinge sind und wie sie seinem Willen nach sein sollten.
Die „Veränderung der Wirklichkeit“ war damals ein Thema, das bestenfalls Psychotherapeuten interessierte, weil „die“ Wirklichkeit außer Frage stand.
Kein Anderssein in dieser Zeit - alles bekommt ein Etikett
Heute, 45 Jahre später, haben wir viele „Wirklichkeiten“ durchlebt. Die Wahrheiten der heutigen Zeit sind kurzlebig, und allzu viele Menschen versuchen, sie zu beeinflussen. „Die Wahrheit“ oder „die Wirklichkeit“ ist eine von vielen Wahrheiten oder Wirklichkeiten. Und genau genommen erlauben wir kaum jemandem, „anders“ zu sein. Der sogenannte Zeitgeist und die „Beeinflusser“ in „sozialen“ Medien treiben uns vor sich her. Wer sich nicht von vornherein ein Etikett gibt, dem wird eines verpasst.
Wir dürfen anders sein – ja – wenn wir Scheuklappen anlegen. Wenn wir „dies“ oder „das“ sind. Wenn wir uns einer Gruppe zuordnen können, einer Ausrichtung oder Ideologie. Oder einfach einem Klub professioneller Hasser oder Bewunderer. Wir fordern von Menschen Autonomie, unterstützen aber nur die jeweilige Rolle, die sie spielen.
Das Anderssein? Ja, darf man denn einfach „anders“ sein? Man darf. Und gelegentlich ist es unerlässlich, die Scheuklappen abzulegen, aus der Rolle zu fallen und den anderen den Spiegel vor das selbstgefällige Gesicht zu halten: Schau auf deine Fassade, Frau, Mann oder wie du dich sonst definierst.
Zitat: "Die Möglichkeit des Andersseins", Bern/Stuttgart/Wien 1977.