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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Zeit der selbstherrlichen Kommentatoren

Die deutschen Kommentatoren üben sich derzeit einerseits darin, den ohnehin längst appellmüden Lesern noch ein paar weitere Appelle hinzuzufügen - andererseits suchen sie nach „Schuldigen“ - und dies durchaus selbstherrlich. Und gelegentlich nutzen sie dazu harsche Sprüche: (FAZ)

... in dieser Stunde hat eine konsequente Bekämpfung der Pandemie Vorrang, denn nur dieser Ansatz verspricht, der Plage möglichst bald Herr zu werden.

An dieser Stelle muss ich mal an den Alten Fritz erinnern. Der konnte auch so hübsch rhetorisch argumentieren:

Morgen um diese Zeit haben wir den Feind geschlagen, oder wir sehen uns nie wieder.

Ein typischer Appell kommt aus Bayern.

Nun haben wir alle – also wirklich alle Bürger in unserem Land – es in der Hand, Solidarität und Disziplin zu üben. Wir müssen die nächsten Wochen, an Weihnachten und über den Jahreswechsel, mit bitteren Einschränkungen leben.
(Mittelbayerische Zeitung, 1)

Und warum der Appell an „alle“ Bürger?

Wieder schauen wir nach Bayern, zur Süddeutschen Zeitung (1):

Wer nicht hören will, muss fühlen – so altmodisch und abstoßend dieser Spruch klingt, so treffend beschreibt er doch, was passiert ist.

Solche Sprüche abzusetzen, erfordert schon eine gehörige Portion Sarkasmus. Und das wird noch getoppt von der Augsburger Allgemeinen::

Dass nun die Freiheit eines jeden rigide beschnitten wird, müssen sich hierzulande Millionen selbst vorwerfen.

Wie schön, liebe Kommentatoren, dass die Menschen in unserem Land und unserer Gesellschaftsordnung „selbst schuld“ sind. Natürlich deckt die Meinungsfreiheit solche ebenso wütenden wie arroganten Ausbrüche - aber wie wäre es damit, verantwortlicher zu schreiben?

Die „Ludwigsburger Kreiszeitung“ (1) versuchte es zumindest:

Suggerierte Müller damit doch: Die Bevölkerung ist schuld, dass es so weit gekommen ist. Dabei haben sich die allermeisten an die verordneten Restriktionen gehalten. Und wohl auch geahnt, dass sie nicht ausreichen werden.

Die Ministerpräsidenten, die zunächst nicht willig der Kanzlerin gefolgt sind, wird gleich von mehreren Kommentatoren der Marsch geblasen: Irgend jemand muss ja die „Schuld“ haben, nicht wahr? Das lässt sich von einem Redaktionssessel aus natürlich trefflich behaupten. Auch die Kommentatorin der ARD wusste es ja. Der Spiegel klapperte zusätzlich mit dem Sargdeckel:

SIe (... Entscheidung für den Lockdown ...) hätte viel früher fallen können und müssen. Viele Menschen mussten sterben, damit die Regierungschefs endlich den Mut fassen konnten ...


Ich finde solche Aussagen nicht nur fragwürdig, sondern auch geschmacklos.

Wie können Journalisten nur so unkritisch sein? Fällt ihnen nichts anderes mehr ein, als sinnlos auf das Volk oder die Ministerpräsidenten einzuschlagen?

Merkwürdig, dass kaum jemand die Kanzlerin erwähnte, die in der Krise zuletzt keinen guten Eindruck machte. Der Kommentator der Wirtschaftswoche (1) tat es.

Es fehlt immer noch eine Strategie, man fährt auf Sicht und rettet sich in die bekannte 'hart-aber-notwendig-Rhetorik'. Merkels Eingeständnis, sie wisse auch nicht wie es nach dem 10. Januar weitergehe, spricht ebenso Bände wie ihr emotionaler Auftritt vergangene Woche im Bundestag.


Niemand weiß wirklich etwas - aber jeder hofft auf etwas

Das ist der eigentliche Punkt: Niemand weiß etwas. Jeder hofft auf etwas, und ich natürlich auch. Aber „Hoffen“ und „Wünschen“ als Aufhänger für die unqualifizierten Angriffe auf alle anderen außer dem Hof zu Berlin zu benutzen, ist verdammt unfair. Und das ist sehr mild formuliert. Im Grund ist es unverschämt, sich als Herrgott auszuspielen, nur weil man Redakteur ist.

das ZDF (1) wusste immerhin:

Außer Kontakte runter, gibt es keine Erklärungen. (...) In vielen Maßnahmen in dieser Pandemie hat sich diese Regierung schon geirrt. Der Wellenbrecher war kein Wellenbrecher, die Weihnachts-Aussicht war trügerisch.

Die Rhein-Neckar-Zeitung (1) sagt, was wirklich nachvollziehbar ist:

Diesen relativen Erfolg (Mitte November,2 ) sollte man mitdenken, bevor angesichts des bevorstehenden harten Lockdowns wahlweise auf Politiker oder uneinsichtige Zeitgenossen verbal eingehauen wird.

Außer ganz wenigen Beispielen von kritischem Journalismus finden wir also überwiegend Hofberichterstattung, Besserwisserei und Beschimpfungen. Und das ist die eigentliche Schande.

Wir werden bald wissen, was daraus wird. Vermutlich sehen wir uns wieder ... denn es wird einen 10. Januar 2021 geben. Ich bin schon heute gespannt, wie die Zeitungen dann kommentieren.

Anmerkung: (1) Einig der Zitate wurden anhand es Originals überprüft, der Rest stammt aus Zusammenfassungen verschiedener Presseorgane, z.B. dem STERN.
(2) Zwischen dem 15.11.2020 und dem 2.12.2020 ging die Anzahl der Neuinfektionen, vergleichen mit denen der Vorwoche, an mehren Stichtagen vorübergehend zurück.

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