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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Anderssein

Als Paul Watzlawick 1977 sein Buch „Die Möglichkeit des Andersseins“ schrieb, meinte er die Kommunikation zwischen den Psychotherapeuten und deren Klienten. Denn die Menschen, die Psychotherapeuten aufsuchen, leiden darunter, anders zu sein. So lautet jedenfalls die einfachste Definition ihrer Beweggründe.

Der Klient, so lesen wir,

Leidet am ungelösten Widerspruch dazwischen, wie die Dinge sind und wie sie seinem Willen nach sein sollten.

Die „Veränderung der Wirklichkeit“ war damals ein Thema, das bestenfalls Psychotherapeuten interessierte, weil „die“ Wirklichkeit außer Frage stand.

Kein Anderssein in dieser Zeit - alles bekommt ein Etikett

Heute, 45 Jahre später, haben wir viele „Wirklichkeiten“ durchlebt. Die Wahrheiten der heutigen Zeit sind kurzlebig, und allzu viele Menschen versuchen, sie zu beeinflussen. „Die Wahrheit“ oder „die Wirklichkeit“ ist eine von vielen Wahrheiten oder Wirklichkeiten. Und genau genommen erlauben wir kaum jemandem, „anders“ zu sein. Der sogenannte Zeitgeist und die „Beeinflusser“ in „sozialen“ Medien treiben uns vor sich her. Wer sich nicht von vornherein ein Etikett gibt, dem wird eines verpasst.

Wir dürfen anders sein – ja – wenn wir Scheuklappen anlegen. Wenn wir „dies“ oder „das“ sind. Wenn wir uns einer Gruppe zuordnen können, einer Ausrichtung oder Ideologie. Oder einfach einem Klub professioneller Hasser oder Bewunderer. Wir fordern von Menschen Autonomie, unterstützen aber nur die jeweilige Rolle, die sie spielen.

Das Anderssein? Ja, darf man denn einfach „anders“ sein? Man darf. Und gelegentlich ist es unerlässlich, die Scheuklappen abzulegen, aus der Rolle zu fallen und den anderen den Spiegel vor das selbstgefällige Gesicht zu halten: Schau auf deine Fassade, Frau, Mann oder wie du dich sonst definierst.

Zitat: "Die Möglichkeit des Andersseins", Bern/Stuttgart/Wien 1977.

Anders denken, anders sein

Der Bann des einseitigen Denkens - von der Grundschule bis ins Alter?
Wer im Mainstream denkt, denkt stromlinienförmig. Er glaubt, auch Jahre nach der Grundschule, dem Abitur oder gar dem Studium an die Grundsätze, die ihm diese alte Tanten und Onkels verklickert haben. Er denkt sozusagen an diesen Thesen entlang, sieht Nebenwege als gefährlich an (Rotkäppchen-Syndrom?) und hält das Anlegen von Scheuklappen für eine Tugend.

Ach, das sind ganz gewöhnliche Menschen? Und wenn es denn Zombies wären, Untertanen des großen Voodoo-Zaubers, der die „Nichtabweichung“ als Norm festlegte, um das Denken unmöglich zu machen?

Die Warnung der Mainstream-Zombies an die Abweichler

Wenn wir nicht denken, wie sie denken, und wenn wir munter und mutig Nebenwege gehen, dann warnen sie uns: Unser Weg würde uns, früher oder später, in die Irre führen. Etwa, wenn wir modellhaft annehmen, dass es einen Unterschied zwischen analogen und digitalen Denkprozessen geben würde. Hätten wir zu anderen Zeiten gelebt, hätten uns ähnliche Anhänger eines ähnlichen höheren Wesens schon dafür verbrannt, dass wir die Erde für eine Kugel und nicht für den Mittelpunkt des Universums gehalten hätten. Nun gut, wenigstens diesen Irrtum geben sie zu. Ihre Hauptschuld an den Hexenverbrennungen allerdings nach wie vor nicht.

Glaubenssätze - rechts, links und leider auch in der Mitte

Wie kann ich mit Menschen offen kommunizieren, die Glaubenssätze skandieren (die gibt es links und rechts und sogar in der Mitte)? Dabei habe ich noch nicht einmal die Menschen mitgezählt, die sich im Gutmenschenkorsett als edel präsentieren – bei ihnen könnte ja noch Hoffnung bestehen.

Vor vielen, vielen Jahren, kurz nach dessen erscheinen, hatte ich Paul Watzlawicks „Die Möglichkeit des Andersseins“ auf meinem Schreibtisch liegen. Jemand trat hinter mich und fragte, mit tadelndem Unterton: „Und das nehmen Sie für sich in Anspruch?“

Ja, das nahm ich für mich in Anspruch. Es war 1977, also vor fast 40 Jahren. Und daran hat sich nichts geändert. Und immer, wenn ich einen Zombie mit zubetoniertem Hirn sehe oder höre, dann, denke ich: Es ist gut, nicht so geworden zu sein.

Und das anders Sein, das anders Denken, das hat etwa mit dem Weltbild zu tun: Wenn wir annehmen, dass es fest und unverrückbar ist, dann haben wir längst zu denken aufgehört. Wenn wir aber annehmen, dass der Wandel beständiger ist als das einmal Festgeschriebene, dann haben wir eine Chance, unser Leben den wechselnden Gegebenheiten abzupassen. Sehen Sie, das war schon alles, was ich Ihnen heute zu sagen hatte.

Und ein Nachwort: Das Rotkäppchen-Syndrom wäre die Furcht davor, andere und sich selbst zu gefährden, wenn man vom Weg abweicht.