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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Die merkwürdigen Folgen einer simplen Frage

Dieser Artikel ist sehr persönlich. Er handelt von seltsamen Erfahrungen, die auf eine Frage folgen können.

Ich hatte nicht damit gerechnet, was ich mit einer simplen Frage alles bewegen würde:

Was überwiegt heute, wenn jemand in Deutschland eine „feste Beziehung“ eingeht? Das Gefühl, der Verstand, die Ökonomie oder etwas anderes?

Gestehen muss ich, dass ich absichtlich nicht nach „einer Ehe“ gefragt hatte – aber ich denke, das langjährige Beziehungen doch relativ oft in Ehen übergehen. Für die Frage benutzte ich ein Forum, auf dem ausgewiesene Fachleute oder fachkundige Laien Fragen beantworten können. Verstanden wird dies als Ergänzung zu Online-Lexika oder schwer auffindbaren wissenschaftlichen Untersuchungen.

Zunächst war ich überrascht von den vielen „oberflächlichen“ Meinungen – das ist nicht abwertend gemeint – aber von einem Frageforum erwarte ich doch etwas mehr. Denn die Frage „was überwiegt“ lässt keine andere Deutung zu, dass gewichtet werden sollte. Entweder aus der eigenen Erfahrung, aus der eignen Klientel heraus oder aus halbwegs vertrauensvollen Statistiken.

Ich gebe zu, dass diese Statistiken schwer zu finden sind und dass sie auch dann noch als fragwürdig angesehen werden können. Deswegen habe ich ja auch auf einem Portal gefragt, auf dem ich Experten und Expertinnen vermuten durfte.

Erstaunlicherweise war unter den Antworten kein einziger Hinweis auf solche Quellen. Wenn man etwas nicht weiß oder nirgendwo Hinweise findet, gibt es noch die Möglichkeit, Tendenzen und Hinweisen zu folgen. Denn im Grunde gilt die Neigungsehe (Liebesheirat) zwar immer noch als bevorzugte Form des Lebensglücks, doch sind andere Tendenzen seit Jahren im Gespräch. Dazu gehören vor allem Ehen, die vorwiegend auf gleichem sozialem Stand, gleichem Einkommen, oder gleichem Bildungsgrad fußen. Und nach wie vor spielen ökonomische Fragen, Mobilität und Kinderwunsch eine beachtliche Rolle.

Stattdessen nervte mich jemand mehrfach damit, warum ich nach den Eheschließungen in Deutschland gefragt hatte. Ja, warum? Weil ich vermute, dass Deutsche am besten wissen, was in Deutschland vor sich geht - woran ich nach meinen Erlebnissen nun aber zweifele.

Und nein, ich beabsichtigte nicht, alle 84 Millionen zu befragen. Zwei bis drei Kundige hätten mir gereicht.

Nachsatz: ich glaube, mir aus den Daten, die ich bisher anderwärts eingesammelt habe, dennoch ein Bild machen zu können.

Natur, Psychologie, Esoterik und eine unsinnige Frage

Ich beobachte sehr oft, wie der Teil der Psychologie, der an Esoterik grenzt, immer mehr zur neuen Religion verkommt. Neu ist das nicht. Aber damals, zu Zeiten von Freud und Jung, beschäftigten sich lediglich ein paar gelangweilte Damen der Gesellschaft mit diesem Teil der „neuen Wissenschaft“, die voller Spekulationen war.

Ja – und heute? Für mich ist erschreckend, wie sehr das „biologische Selbstverständnis“, aus dem heraus unsere Spezies vor mehreren Millionen Jahren entstanden ist, in den Hintergrund tritt. Die letzte große Veränderung in unserer Entwicklungsgeschichte begann mit einer Revolution, auf die nach wie vor unsere Kultur aufbaut. Man nennt sie die „neolithische Revolution“, aber sie war mehr als nur die „Jungsteinzeit“.

Was freut dich oder quält dich?

Nach und nach lernten wir, uns selbst zu betrachten – und als wir dies konnten, haben wir begonnen, unser Dasein zu lenken. Und wir konnten und fragen, wer wir sind und warum uns etwas erfreut oder quält. Doch nach und nach stellten wir uns weitere Fragen, die über unsere Lebzeiten hinaus gingen. Dies alles ist abgedeckt durch Religion einerseits und Philosophie andererseits.

Und die Psychologie? Sie ist ohne Zweifel eine Notwendigkeit. Wer in schweren Zweifeln über ich selbst ist oder unter seinem Verhalten leidet, braucht sie. Und denjenigen, die mehr über sich selbst wissen wollen als andere, hilft die Psychologie.

Die esoterische Gefahr

Allerdings hat sie eine gefährliche Tendenz. Es ist das unendliche, mühevolle und oft selbstzerstörerische Graben nach einem Geheimnis, das in uns wohnt, und dass es zu wecken gilt. Am Ende dieses Prozesses stellen die meisten von uns fest: So etwas gibt es nicht – man darf aber glauben und hoffen. Das ist eine sehr vernünftige Einstellung.

Warum? Weil es mich drängt, es zu tun ...

Womit ich am Ende dieser kurzen Betrachtung bin. Ich wurde mehrfach in meinen Leben gefragt: „Warum tust du dies oder jenes?“ Ich dachte, ich täte es, weil ich ein freier Mensch wäre. Das reichte mir als Begründung. Seither habe ich Kaufleuten, Künstlern und anderen engagierten Menschen dieselbe Frage gestellt. Und eine Antwort fand ich besonders klug: „Weil es mich drängt, es zu tun.“

Seht mal, dies muss wirklich als Antwort reichen. Denn diese Antwort ist ehrlich, sachlich und ohne falsches Pathos. Was ich sonst hörte, waren Interpretationen, die sich mehr oder weniger fremd anhörten. Und da drängte sich mir der Verdacht auf, dass man den Antwortgebern etwas eingeredet hat.

Die angeblichen Eliten und ihr Wissen

Heute ist es wieder einmal passiert: Da schrieb jemand durchaus in meinem Sinne, dass wir heute zu oberflächlich argumentieren und „man glaube plausibel Klingendes, ohne es zu hinterfragen“ und überhaupt „frage man nicht mehr.“ Es las sich, als bedaure es der Autor /die Autorin.

Aber dann stand da noch ein Satz: „Klassische Bildung ist überhaupt kein Thema“.

Dieser Teilsatz hat mich dann dazu gebracht, den Begriff „klassische Bildung“ zu hinterfragen, denn in der heutigen Zeit ist es schwer, mit solchen pauschalen Oberbegriffen („Klassische Bildung, „klassische Musik“, „klassische Literatur“) noch etwas anzufangen. Also sollte es sich lohnen, nachzufragen oder den Begriff selbst zu „hinterfragen“. Und ich erlaubte mir, nachzufragen:

Was versteht du unter klassischer Bildung?

Als Antwort erhielt ich einen Link zu Wikipedia, wo mich Herr von Humboldt streng ansah. Der Artikel wirkt, wie so oft bei Wikipedia, in verstörender Weise unverständlich und enthält tatsächlich den Begriff, der sich letztlich auf eine bestimmte Bildungstheorie beschränkt, die als „klassisch“ definiert wird.

Nur: Danach hatte ich überhaupt nicht gefragt.

Gebildete Kreise nutzen oft abgenutzte Phrasen

Und nun erschließt sich, wie in manchen angeblich „gebildeten“ Kreisen oftmals diskutiert wird. Nämlich mit Phrasen, die dort bekannt und angeblich „klar definiert sind“, die aber keinen Ausschluss darüber zulassen, was wirklich gemeint ist. Die selbst ernannten Eliten werfen mit Begriffen herum, mit denen sie sich hervortun wollen – das mag ihr gutes Recht sein. Aber es verhindert den gesellschaftlichen Dialog.

Damit noch etwas weniger Ernstes in diesen Artikel kommt, hier ein Auszug aus „Meyers Lexikon“ von ca. 1890:

(Bildung) … wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwickelung des Menschen gebraucht. In dieser Anwendung ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, teilt es mit den meisten Lieblingswörtern desselben das Schicksal, dass sein Gepräge, wie bei einer abgegriffenen Münze, sich verwischt hat und sein Sinn vieldeutig geworden ist.


Ein letzter Satz? Es kann durchaus kühner sein, etwas zu hinterfragen, als etwas zu behaupten.

Das Unterbewusstsein

Das sogenannte „Unterbewusstsein“ ist nicht nur dem Psychologiestudenten, sondern auch jedem Bildungsbürger bekannt. Schließlich will jeder beweisen, dass er (sie) zu den „gebildeten Kreisen“ gehört.

Doch der glänzende Lack des Wortes ist längst verblichen. Man kann also einen Menschen, der das Wort ständig benutzt, um Gefühle, Regungen und Handlungen zu erklären, nicht mehr unbedingt als „gebildet“ bezeichnen.

Um es klar zu sagen: Das „Unterbewusstsein“ ist ein Modell, aber keine Tatsache. Und zudem ist ausgesprochen zweifelhaft, ob ein Bewusstsein, das ständig in „Habacht-Stellung“ ist, biologisch überhaupt sinnvoll wäre.

Wen diese Aussage wundert, und wer wenig Zeit hat, darüber ausführlich nachzudenken, sollte einen Blick in dieses Lexikon werfen.

Fetisch Persönlichkeit

Fetisch, Fassade, Persönlichkeit?
Ein Fetisch ist im Grunde etwas, dem magische Kräfte zugeschrieben werden. Es kann er auch ein Götzenbild des Daseins beinhalten.

Die Persönlichkeit ist einer der populärsten Fetische der modernen Gesellschaft - kein Wunder also, dass sich Psychologen und Scharlatane gleichermaßen damit beschäftigen. Zudem haben viele Geschäftemacher entdeckt, dass mit „Persönlichkeitsbildung“ das große Geschäft zu machen ist. Wer im Internet sucht, kommt sich vor wie auf der „Pararade“ einer Schaubude. Da werden durch die Ausrufer enorme Versprechungen gemacht. (1) Beispielsweise, dass die geheimnisvolle Dame, die ihre Schönheit noch hinter einer Tüllgardine verbirgt, im Inneren alles fallen lassen wird und dann in paradiesischer Schönheit zu besichtigen ist. Real betrachtet und auf die Persönlichkeit bezogen: Wer seine eigene Persönlichkeit wirklich verstehen oder gar verändern will, braucht viel Zeit, Geduld und Umsicht. Und ob das Unterfangen lohnend ist, weiß niemand so recht.

So weit zum „Fetisch Persönlichkeit“ und dem Jahrmarkt, auf dem diese Attraktionen zur Schau gestellt wird.

Vom Jahrmarkt zur Realität des Alltags - was ist "Persönlichkeit"?

Fragt sich, was denn nun die „Persönlichkeit“ ist - und dafür gibt es folgende zuverlässige Quelle (2):

Persönlichkeit ist die Gesamtheit aller überdauernden individuellen Besonderheiten im Erleben und Verhalten eines Menschen.
Falls ihr jetzt sagt „ach so … “ dann denkt ihr genau das, was die meisten denken. Sie vermuten viel zu viel hinter dem Wort, denn die Summe der „Persönlichkeitsmerkmale“ ersetzt heute das früher gebrauchte Wort „Charakter“.

Um eben diesen Charakter, also die Beurteilung und Auswirkung von Persönlichkeitseigenschaften geht es, wenn wir aus den vielfältigen Persönlichkeitseigenschaften einige herausgreifen, die für „relevant“ gehalten werden. Je nachdem, wer sie für relevant hält, werden sie anschließend zu Gruppen zusammengefasst und „etikettiert“. Oder, noch mal mit der klassischen Definition (2):

Neben dieser funktionsorientierten Klassifikation gibt es empirisch begründete Klassifikationen nach Ähnlichkeit der Verwendung von Eigenschaftsbegriffen im Alltag.

Begonnen hat alles mit dem Berühmten, gleichwohl ebenso umstrittenen Carl Gustav Jung. In den USA ist nach wie vor der Myers-Briggs-Test populär, der eine ähnliche Basis hat. Über ihn definieren sich heute noch viele Personen. Vier Buchstaben, und du weißt, wozu die Person taugt - jedenfalls nach Meinung der Anhänger dieser Theorie. In manchen westlichen Ländern glaubt man, das Fünffaktoren-Modell sei der Schlüssel zur Persönlichkeit. Dies ist allerdings hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass „die Persönlichkeit“ bei all diesen Modellen auf bestimmte Eigenschaften reduziert wird, unabhängig davon, ob sie eine tatsächliche, weitreichende Bedeutung haben. Die Kritik wird allerdings weitgehend vernachlässigt, damit das Gedankengebäude, was darüber errichtet wurde, nicht zusammenfällt. Konkret geht es um den „lexikalischen Ansatz“, also die Annahme, dass Begriffe zu Fakten werden und damit nicht mehr infrage gestellt werden dürfen.

Was müssen wir nun mitnehmen von der „Persönlichkeit“?

Zunächst einmal, dass nur wir selbst genau wissen können, was uns ausmacht, den wir sind die einig zuständige Instanz. Dabei können wir irren - der Psychologe redet ja von Unterschieden im Selbst- und Fremdbild. Auch solche Aussagen sind allerdings mit Vorsicht zu behandeln. Sogenannte „facettenreiche“ Persönlichkeiten lassen sich nur schwer einordnen, und das moderne Leben fordert uns mehrere Rollen ab, die wir alle „in Person“ spielen.

Wenn dies gesagt ist, fehlt noch ein Satz: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Persönlichkeit wird von unserer Umgebung als Ganzes wahrgenommen und nicht anhand der Bestandteile zerpflückt. Und weil dies so ist, sollten wir uns wenig Gedanken um unsere Persönlichkeit machen, sondern versuchen, mit ihr zu leben.

(1) Praxis der Schaubude.
(2) Dorsch.
Bild: Liebesverlag-Archiv, Schaubühne auf einem Volksfest, nachkoloriert.