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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Der klassifizierte Mensch

Was hat dieser Ort (Portmeirion) mit dem Artikel zu tun? Nachdenken hilft ...
Ist es möglich, einen Menschen eindeutig zu klassifizieren? Wer schon einmal versucht hat, Kategorien für irgendetwas aufzustellen, der weiß, wie schwer es ohnehin ist. Die größten Schwierigkeiten tauchen immer dann auf, wenn etwas „dazwischen“ liegt. Und mancher hat schon erlebt, dass er blau sieht, wo andere „grün“ sehen.

Die alten Griechen und das, was in der Mitte liegen mag

Um wie viel schwerer ist es dann, „Charaktereigenschaften“ oder „Persönlichkeitseigenschaften“ zu klassifizieren? Versucht wurde es immer wieder, zum Beispiel von den Griechen: Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker und Choleriker wurden erdacht. Doch wenn man sie grafisch darstellt, wird man finden: Eigentlich liegen die meisten von uns „irgendwie im Mittelfeld“. Das klingt plausibel, und ich habe es schon als Schüler begriffen.

Hier das - dort das - der Etikettenschwindel

Als die Psychologie die Klassifizierungen neu definierte, verfiel sie in das gleiche Schema. Eine Persönlichkeit, so dachte man, müsse ein Leitmotiv haben – und dieses vermutete man zwischen zwei Extremen: „Introvertiert“ einerseits und „Extravertiert“ andererseits. Und so entstanden zahlreiche Modelle, die alle darauf beruhen: Der Baum der grundlegenden Eigenschaft „Introvertiert“ wie auch sein Gegenstück bekamen Äste, wieder aus einem Eigenschaftspaar gebildet. So wurden aus den zwei Stämmen wundersame Gebilde mit jeweils acht Ästen, also insgesamt 16 Kategorien.

Der alte Lehrer, der mir einst erklärt hatte, dass wir uns alle irgendwie im Mittelfeld von vier Eigenschaften befinden würden, hätte vermutlich sein weises Haupt geschüttelt. Da sind also 16 Bäume, und auf einem von ihnen wohnst du? Er ist dein Lebensraum und Lebensinhalt?

Wissenschaft, Leichtsinn oder Unsinn?

Ich hätte mich sofort gefragt: Wie meschugge können Leute eigentlich sein, sich so etwas ausdenken?

Wahrscheinlich werdet ihr jetzt sagen: aber das waren doch Wissenschaftler, Leute, die lange studiert haben, um solche Themen zu beforschen und zu veröffentlichen?

Das frage ich mich auch. Und ich versuche sogar dann und wann, solchen Theorien etwas Positives abzugewinnen. Doch was soll bitte „Konkretes“ aus Theorien kommen, deren Grundlagen so schwammig sind? Und ja, es mag daran liegen, dass ich mal IT-Organisator war. Und da gilt: Shit in – Shit out.

Das Selbst – geschenkt, verschwendet, missbraucht, vergessen

Das SELBST ist ein gutes Beispiel dafür, wie weit sich die akademische Psychologie von der menschlichen Wirklichkeit unterscheidet. Ein kurzer Blick auf WIKIPEDIA gibt uns Einblick in die verworrene akademische Welt. Ja, der Begriff wurde von Carl Gustav Jung eingeführt, aber seine Blütezeit erlebte der Begriff in der humanistischen Psychologie.

Wie das SELBST in die Welt kam

Bevor es das SELBST gab, existierte das ICH. Zunächst interessierte es nahezu ausschließlich Philosophen. Das wurde anders, als sich Ärzte damit beschäftigten. Seither ist das ICH der Heilige Gral der Psychologen und eines der Lieblingsthemen in den Zirkeln, die „psychologieaffin“ sind. Begriffen hat die Freud’sche Konstruktion kaum jemand außerhalb der Psychologie, schon gar nicht die Menschen aus dem Volke. Die drei Begriffe „ICH“, „ES“ und „ÜBER ICH“ zu gebrauchen, ist neben den Elfenbeinturm-Bewohnern vor allem den Bildungsbürgern vorbehalten. Irgendwie steht Freud dort neben Mozart und Goethe – als Lichtgestalt.

Etwas im Alltag Verwendbares? Oh Schreck!

Als Eric Berne die Begriffe auf den Alltag herunterbrach (1) , wurde er zunächst verachtet. Seine Lehre „PACH“ entsprach nicht den akademischen Standards. Es ist aber bisher die einzige praktische anwendbare Lehre, die aus der ICH-Verschachtelung entstanden ist.

Das SELBST, das SEIN und die ANDEREN

Das SELBST sollte uns von der unheiligen Dreifaltigkeit erlösen. Der Begriff sorgte dafür, dass wir unsere Emotionen und/oder unser Verhalten in einem Begriff zusammenfassen konnten. Das SELBST wurde zum Zentrum des Bewussten wie des Unbewussten – das leuchtet vielen Menschen ein. Ronald D. Laing erkannte, dass zu unserem inneren „Universum“ auch noch ein „ANDERE“ gehört – und auch er wurde dafür von den Gralshütern der Psychologie verachtet. Und das hat sich bis heute nicht verändert.

Wie das SELBST unter die Räder kam

Das SELBST geriet schnell in schlechte Gesellschaft: Gurus, Esoteriker Geschäftemacher besetzten es in kürzester Zeit. Die Idee, ein SELBST zu besitzen, gebar die Idee, es auch optimieren zu können. Und um es zu optimieren, wurden Seminare, Kurse und Workshops angeboten. Dadurch wurde das SELBST nach und nach entwertet. Sam Ende wusste niemand mehr, was es eigentlich bedeutete. Die ursprüngliche Idee, das Bewusste mit dem Unbewussten zu versöhnen, geriet in Vergessenheit. Es mag auch daran gelegen haben, dass unser „Bewusstes“ recht präzis, unser Unbewusstes aber extrem schwammig definiert wird.

Die Geburt der Persönlichkeitseigenschaften

In der Folge beschäftigte man sich deutlich weniger mit dem ICH, nicht mehr mit der Gruppe von ICHs und nicht mehr mit dem SELBST. Heute sind wir gewohnt, alles, was wir sind und wie wir wirken, „Persönlichkeitseigenschaften“ zu bezeichnen.

Bislang ist dies der letzte Schritt der Umwertung. Nichts ist so beliebig wie die „Persönlichkeit“ und die mit ihr verbundenen „Persönlichkeitsmerkmale“. Psychologen freut dies, weil sie nun alle Eigenschaften katalogisieren und bewerten können. Die Geschäftemacher, Gurus und Esoteriker sind glücklich, weil sie etwas zum „optimieren“ haben, ganz zu schweigen von Online-Dating-Firmen.

Die neue Einseitigkeit

Könnte es wohl sein, dass wir etwas aus den Augen verloren haben? Unsere Herkunft aus der Gruppe der Säugetiere, beispielsweise? Sie gehört gewiss zum SELBST, aber kaum noch zur „Persönlichkeit“. Die Rückkoppelung bei den Begegnungen von Menschen? Das Vordenken bei Begegnungen, das mindestens voraussetzt, dass wir ein rudimentäres „ANDERE“ im Kopf haben? Oder wenigstens, dass es Menschen geben könnte, die nicht in das Raster der etikettierungswütigen „Fachleute“ passen?

Ich hoffe, ich habe wenigsten Einige von euch angesprochen. Und falls ich wenigsten einen Menschen zum Nachdenken gebracht habe: Ich bin mit wenig zufrieden.

(1) Zitat (heute, Wikipedia):

Das Bemühen Eric Bernes, psychische Prozesse und Phänomene mit relativ leicht verständlicher, einfacher Sprache zu beschreiben, hat dazu geführt, dass Menschen die Terminologie der Transaktionsanalyse benutzten, ohne die dahinter liegenden Konzepte zu kennen oder zu beachten.

Multiple Persönlichkeiten?

Und was machen wir nun gemeinsam?
Kein Kybernetiker (1) würde unterschreiben, dass die körpereigene CPU (2) nur eine Persönlichkeit managen kann. Jeder, der sich mit Datenverarbeitung beschäftigt würde dies bezweifeln und einen neutralen Beweis dafür fordern.

Ich las gerade darüber, wie Psychologen und Psychiater eine „Multiple Persönlichkeit“ sehen. Sie sagen, es sei eine „gespaltene“ Persönlichkeit, und sie mögen dann recht haben, wenn die eine Persönlichkeit nichts von der anderen weiß und sie auch nicht anerkennt. Was aber, wenn beide Persönlichkeiten friedlich, kreativ und sinnvoll zusammenarbeiten?

Die andere Frage, die ich mir stelle: Wie, bitte schön, soll ein Schriftsteller „Figuren“ schöpfen, wenn er nur eine Persönlichkeit in sich zulässt? Wie soll er einen Dialog schreiben, wie die Gefühle eines sinnlichen Mannes oder einer korrupten Frau nachvollziehen? (Ich verwende diese Figuren hier bewusst, weil sie keinem gängigen Klischee entsprechen).

Fällt euch dazu etwas ein?

(1) Jemand, der sich mit Steuer- Regel-. und Rückkoppelungsprozessen in Technik und Natur beschäftigt.
(2) CPU - Grundbaustein des Computers, etwas flapsig für das Gehirn verwendet.