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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Der Vorwurf des Narzissmus – ein Mythos?

Egoistisch, egomanisch, ich-bezogen … es gibt mehr Wörter für angeblich verantwortungslose, in sich selbst verliebte Menschen. Und natürlich das Modewort der Psychofetischisten: den Narzissmus.

Wir Menschen neigen dazu, einerseits uns selbst zu retten, wenn Gefahr droht, andererseits aber auch, andere retten zu wollen. Außerhalb einer akuten Gefahr wägen wir mit Recht ab, was derzeit nötig ist und welche Maßnahmen einen Sinn haben. Manchmal ist es dabei nötig, mit anderen zu verhandeln, also „Geben und Nehmen“ in Einklang zu bringen, sodass beide Teile zufrieden sind. All dies ist absolut normal und wird zudem immer wichtiger. Zum Beispiel für Ehepaare. Die bürgerliche Braut um 1900 wusste noch genau, welche Aufgaben sie als Ehefrau haben würde, und verhandelt wurde bestenfalls zwischen Brautvater und späterem Ehemann. 50 Jahre später mussten nur wenige Details verhandelt werden, zum Beispiel, ob die Ehefrau „mitarbeiten“ solle oder nicht. Weitere 50 Jahre später war klar, dass nahezu alles zwischen den Partnern verhandelt werden muss – mit dem Einverständnis beider Parteien.

Sich durchsetzen wollen und nichts zulassen wollen

Wer nicht verhandeln will, wer sich nicht einlässt, wer nicht nachgibt oder wer überhaupt keine Kompromisse schließen will, wird häufig abgelehnt. Andererseits gilt als Schwäche, etwas zu verhandeln, sich einzulassen, nachzugeben oder zu Kompromissen bereit zu sein. Genau diese Situation aber schafft den Begriff: „Du bist ein Narzisst, weil du dich durchsetzen willst.“ Ganz falsch, denn ein Narzisst ist auch, wer nichts zulassen will.

Offenbar geht es gar nicht um „Narzissmus“, sondern darum, nichts anzubieten, was verhandelbar ist. Oder gar anzunehmen, man müsse gar nicht verhandeln, weil es feste Regeln gäben, wie etwas „zu tun sei“.

Wer andere "Narzissten" nennt, beleidigt sie

Wir wissen recht genau, dass Narzissten nicht einfach Menschen sind, die sich selbst retten wollen, bevor sie andere retten. Jemand hatte den Ausdruck „Narzisst“ jüngst als die „letzte salonfähige Beleidigung“ (1) bezeichnet, und genau das ist sie: Eine gezielte Beleidigung, hinter der ebenfalls ein verkappter Narzisst steckt. Der Gedanke dahinter würde lauten: „Oh, ich bin gut und ehrenhaft, und du bist nicht ganz richtig im Kopf“.

Sagen wir es mal direkt und ungeschminkt: Wer andere als „Narzissten“ bezeichnet, ohne Psychiater zu sein, der ist mit großer Wahrscheinlichkeit selber einer – oder eine. Denn dazu, Menschen zu etikettieren, gehört bereits eine erhebliche Selbstherrlichkeit. Ein Mensch, der über etwas Vernunft verfügt, wird hingegen sagen: „Er (oder sie) hat sich dieser oder jener Situation mit Gewalt oder Winkelzügen durchgesetzt und damit anderen geschadet.“

Die billige Masche, andere zu etikettieren

Wer beschreiben soll, wie sich ein angeblicher Narzisst“ oder eine „Narzisstin“ verhält, wird bald herausfinden, wie schwer das ist. Ein bisschen den eigenen Vorteil im Auge zu haben, reicht dabei keinesfalls, und etwas Überheblichkeit alleine auch nicht. Und mal salopp gesagt: An andere Etiketten zu verteilen, ist eine ganz billige Masche, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.

(1) Viel mehr lest ihr zum Thema bei Quarks

Etiketten statt Erklärungen

In früheren Zeiten waren wir gewohnt, das Verhalten von Menschen anhand unserer Beobachtungen zu beschreiben. Das war schwierig, aber sinnreich.

Heute schlagen wir einander mit Begriffen, bis die emotionalen Wunden bluten. Ich habe gerade meinen großen Zeh (noch nicht mehr) in ein Thema getaucht, das man Vereinnahmung nennt.

Also mal Google her, und erst einmal nachgeforscht, wie sie begründet werden kann, die Vereinnahmung. Wann beginnt sie? Welche Motive haben jene, die sich vereinnahmen lassen? Wie beschreiben Menschen diesen Prozess?

Doch Google hält - wie offenbar die meisten Menschen, die im Internet publizieren - nahezu nur Schlagwörter für mich bereit. Zwei, die derzeit besonders populär sind heißen „toxisch“ und „narzisstisch“.

Wie das Internet die Welt in ein Irrenhaus verwandelt

Wenn ich alldem glauben würde, dann wäre die Welt (insbesondere die der Männer) ein Irrenhaus, das von Männlichkeitswahn und (gleichfalls männlichen) Vereinnahmungsfantasien dominiert wird. Und natürlich wissen die meisten der Autorinnen und Autoren: Das kann irgendwie nicht sein. Aber so ein Begriff ist nun einmal schnell in den Mund genommen, und jeder, der über eine gepflegte, akademisierte Sprache verfügt, kann ihn glaubwürdig über die Lippen bringen. Schade für die, die es lesen und daran glauben.

Vereinnahmung ist ein Thema, das bei der Partnersuche eine große Rolle spielt, so sehr, dass sich manche Menschen (und diesmal auch Männer) sogleich „vereinnahmt“ fühlen.

Aber das Thema ist wirklich zu schade, um es den Labervögeln zu überlassen, die mit Etiketten um sich werfen und so Klugheit vortäuschen.

Was meint ihr?