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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Springer: Das 1968er-Bashing geht weiter

Klar, dass dem Springer-Verlag die 1968er immer noch ein Dorn im Auge sind. Also muss man mal wieder ein bisschen in 1968er-Bashing machen (Zitat):

Die politischen Verhältnisse wandeln sich gerade. Deutschland steht mit einiger Wahrscheinlichkeit vor einer schwarz-grünen Ära. Die Bürger haben ein Recht darauf, ohne Beschönigung zu erfahren, was eigentlich die geistigen Grundlagen dieser grün eingefärbten Republik sind.


Das eigenartige Kulturverständns der WELT-Redaktion folgt dabei folgender Logik:

Die sexuelle Revolution der 1968er Jahre wurde missbraucht. Und zwar mithilfe von Kindern und ohne die Berücksichtigung der Interessen der Frauen. Und die Grünen sind die Erben von alldem.

Was den Missbrauch der Kinder betrifft, so waren es einige Abweichler – was die Welt natürlich weiß. Sieht man sich die Frauen an, so gab es das, was es vorher auch gab: Frauenrechte wurden missachtet – nicht unüblich in der CDU-Republik. Und überhaupt: Die sexuelle Revolution ging weder von den 1968ern aus, noch wurde sie ausschließlich von ihr getragen. Und die Grünen? Haben die Grünen ursächlich etwas mit der 1968er Bewegung zu tun gehabt?

Die Frage nach den geistigen Grundlagen ist unverschämt

Unverschämt ist der Hinweis auf die „geistigen Grundlagen“. Ja sicher, bei der CDU ist man fein raus, da kann an sich auf das ach-so-edle Christentum berufen, und bei der SPD auf den edlen Sozialismus und bei der FDP auf die Grundsätze des Humanismus. Und bei den Grünen? Ei Potz, ja, wo sind denn deren Grundlagen?

Mal ehrlich, liebe Redakteure der WELT … es reicht völlig, sich als Grundlage des politischen Handelns auf die Deklaration der Menschenrechte und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu berufen.

Zu viel Lob für Christina von Hodenberg?

Die Lobhudelei, die um die Professorin Christina von Hodenberg derzeitig veranstaltet wird, will auch nicht recht ins Bild passen. Ihre neue Sicht auf die 1968er in Ehren – aber trägt diese „Aufarbeitung“ wirklich dazu bei, das Leben der Menschen in Deutschland vor und nach 1968 wirklich zu verstehen? Kann ein Mensch, der 1965 geboren wurde und bereits alle Segnungen der neuen Zeit genoss, die emotionalen Aspekte des Lebens vor 1968 und danach überhaupt nachvollziehen? Ich zweifele nicht an Frau von Hodenbergs Kompetenz als Historikerin und ihre Recherche. Doch die Frage: "Was wäre bitte aus Deutschland geworden, wenn die 1968er, die ja eigentlich keine „Revolutionäre“ waren, nicht gewesen wären?", muss erlaubt sein.

Vage Erinnerungen an Warnungen vor „Tanzgruppen für den Orient”

Männer-Träume vom Orient als Postkarte
In den 1950er Jahren wurde in Mythos verbreitet, dass eine Gruppe von sogenannten „Mädchenhändlern“ (so nannte man diese damals wirklich) versuchen würden, junge Damen als „Tänzerinnen für den Orient“ zu rekrutieren. Dies geschah offenbar hauptsächlich zwischen 1950 und 1952 – der Mythos hingegen wurde noch viele Jahre aufrechterhalten. Eine der letzen Überschriften las ich 1972: Deutsche Mädchen als Sklavinnen: Im Harem lebendig begraben. (Quick 1972).

Wer nichts über den Anfang der 1950er Jahre weiß: 1949 wurde die Trizone begründet - der erste Schritt zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, also Westdeutschlands oder offiziell: der Bundesrepublik Deutschland. Neben einem gewissen Wirtschaftsaufschwung (Wirtschaftswunder), der hauptsächlich denjenigen zugute kam, die Immobilien besaßen oder andere Werte über die Kriegszeiten gerettet hatten, war das Volk arm und sehnsüchtig. Vor allem das Fernweh und der schnelle Ruhm gehörten zu den Träumen junger Menschen und ihrer Eltern. Für die meisten war er unerfüllbar.

Die Lust daran, der Enge zu enfliehen

So wird sich kaum jemand wundern, dass die Lust daran, durch Teilnahme an einer Tanzgruppe fremde Länder kennenzulernen, bei vielen jungen Mädchen der damaligen Zeit ausgesprochen populär war. Man gaukelte den jungen Balletteusen (tatsächlich hatten einige von ihnen eine entsprechende Ausbildung) vor, sie würden die Möglichkeit haben, in der Mailänder Scala aufzutreten. In Wahrheit war zwar Mailand eine Zwischenstation, doch das Ziel war, die jungen Tänzerinnen baldmöglichst an Bordelle „im Orient“ zu verkaufen, wobei allerdings außer Marokko keine anderen Destillationen bekannt wurden. Im SPIEGEL war damals zu lesen, die jungen Frauen seine für die Fremdenlegionärsbordelle von Meknes und Sidi-bel-Abbès bestimmt gewesen. (Quelle: SPIEGEL, Printausgabe, Oktober 1951.,

Derartige Berichte riefen voreilige Kassandrarufer auf den Plan, die Eltern eindringlich davor warnten, ihre Töchter an „Tanzgruppen“ teilnehmen zu lassen Und selbstverständlich griff auch die damals neuerlich aufkommende Sensationspresse das publikumswirksame Thema auf. Plötzlich war die Gefahr überall und man berichtete davon, dass die Frauen an Bordelle oder an Sklavenhändler im Orient verkauft wurden, die diese ihrerseits wieder an reiche Despoten verscherbelten.

Es gab mehrere Berichte über Gräueltaten, beginnend mit Schlägen und endend mit Folter, durch „ausgerissene Fingernägel“ und alles, was sonst der Fantasie des Grauens entsprang.

Weiße Sklavinnen - der Ursprung des Themas
Weißhäutiger Nachschub für die Orientalen - wie es ein Orientmaler sah


Warnung vor Zuhältern, die Damen in der Stadt ansprechen
International war das Thema bereits seit vielen Jahren als „weiße Sklaverei“ bekannt, und auch damals wurden Tatsachen mit Sensationsberichten vermischt, sodass niemand mehr so recht wusste, wo die Tatsachen endeten und wo die Sensationsberichte begannen. Der Unterschied lag jedoch darin, dass die „weißen Sklavinnen“ von Zuhältern im Gewand von Geschäftsleuten rekrutiert wurden, die sich ganz bewusst an mittellose Frauen wandten. Dabei spielte auch die Auswanderung aus Not und Glückshoffnung eine große Rolle.

So entstand der Mythos "Blonde Frauen für den Orient"

Neben der grausamen Realität entstand so eine naiv-romantische Sichtweise des Orients, wie ich aus einer Schilderung erfuhr, in der Vorkriegsereignisse mit Nachkriegsmythen verquickt wurden (Quelle):

Ich habe eine vage Erinnerung an etwas, das mir ein älterer Verwandter sagte, als ich sehr jung war. Er meinte ernsthaft, ich solle mich vor den Gefahren der Stadt hüten, in der weiße Sklavinnen rekrutiert würden. Anscheinend sei es so, dass man in einem Moment etwas einkauft und im nächsten Moment in einem Harem aufwacht.


Der Mythos in den 1950er Jahren in Westdeutschland wurde aus mehreren Quellen gespeist:

- Aus einem bekannt gewordenen tatsächlichen Verbrechen dieser Art.
- Aus Vorkriegsberichten, nach denen Auswanderinnen in die Prostitution gezwungen wurden.
- Aus Sensationsberichten, die sich Autoren in den 1950er Jahren aus den Fingern saugten.
- Aus übertriebenen Warnungen, die ganz bewusst als Disziplinierung eingesetzt wurden.
- Aus falschen Vorstellungen über „die Orientalen“ und ihre „Harems“, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden.
- Aus Filmen, deren Inhalte mehr oder weniger als Tatsachen genommen wurden.

So als kam der Mythos in die Welt, dass in Westdeutschland über Zeitungsanzeigen in Massen junge Frauen gesucht wurden, die angeblich zu Tänzerinnen ausgebildet werden sollten. Sie endeten, laut der einschlägigen Sensationspresse, in „orientalischen Bordellen“, geschunden, geschlagen und gefoltert. Der Teil, der wahr, ekelerregend und belegbar ist, nämlich die der Tanzgruppe „Mille fleurs“, gehörte noch zur Berichterstattung. Der Rest diente dazu, Mythen zu erzeugen und junge Frauen zu disziplinieren, die sich etwas anderes vorstellen konnten als eine Zukunft als Verkäuferin, Kontoristin oder Friseuse.