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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Rückkehr sexueller Tabus – durch den Islam?

Ich muss wirklich mal höhnisch grinsen. Man sagt mir, die sexuellen Tabus kämen zurück. Wegen der Islamisierung, und an der sei die „Linksgrüne Meinungselite“ schuld. Erstaunlich, dass sich so viele Menschen Gedanken um „Frauen im Islam“ machen, die überhaupt niemanden kennen, der dem Islam anhängt. Ich selbst habe neulich hautnah eine solche Diskussion erlebt, ja, ich war gewissermaßen an ihr beteiligt. Ich will meine Argumente gar nicht wiederholen, aber ich darf wohl fragen: Warum fangen wir nicht an, vor der eigenen Tür zu kehren? Warum greifen wir nicht zuerst die Abwertungen und Erniedrigungen auf, die Deutsche anderen Deutschen antun?

Kulturen lassen sich nicht wegschnipsen

Natürlich können und dürfen wir darüber reden, dass uns Burkas und Burkinis, Schwimmverbote, Kopftücher und Verlobungen unter Minderjährigen nicht gefallen. Nettes Partythema, nicht wahr? Und wir können auch sagen, dass wir die Entwicklung von Subkulturen hemmen müssen. Doch zwischen „etwa fordern“ und „etwas durchsetzen“ liegen Welten. Und wir integrieren andere Kulturen nicht mit einem Fingerschnipsen. Schließlich lassen wir uns selbst ja auch nicht einfach integrieren.

Anders leben? Das muss erlaubt sein

Und vor allem können wir etwas nicht: Verhindern, dass andere Menschen anders leben wollen als dies „so üblich“ ist - und dies auch durchzusetzen versuchen. Und man denke: Auch Heiden, Christen und Juden tun das.

Die Moralinsäure kommt von Rechts

Mit den sexuellen Tabus hat das gar nichts zu tun. Sie kommen aus rechtskonservativen, antiliberalen und christlich-konservativen Kreisen, denen die ganze Chose des Liberalismus nicht passt. Und das nervt wirklich, weil es uns Übrige unmittelbar betrifft.

Rotkäppchen, die Romantik und die Moral

Junge Frau und böser Wolf in der Maske der Großmutter von Paul Woodroffe
Wie alt ist Rotkäppchen eigentlich, als sie zur Großmutter geschickt wird?

Die Frage, wie alt das Rotkäppchen sein könnte, das wir von den Grimms her kennen, wird sehr unterschiedlich beantwortetet. In einem Beitrag heißt es:

Die Geschichtenerzähler erwähnen selten das Alter der jungen Protagonisten. Wörtlich, doch die Illustratoren porträtieren sie irgendwo zwischen einem Alter von drei oder vier Jahren bis hin zum früher Teenageralter.


Nun gilt für viele Kinder, dass sie die Protagonisten als „Menschen ihres Alters“ empfinden. Die Vorstellung also, allein mit einem Korb voller Nahrungsmittel durch den dunklen, von wilden Tieren bewohnten Wald zu gehen, ist nicht altersgebunden. Ja, diese Furcht verfolgt viele Menschen bis weit ins Erwachsenenalter.

Auf der anderen Seite ist es sehr unwahrscheinlich, dass man ein Kind unter 12 Jahren durch den Wald oder „ins nächste Dorf“ schickt. Dazu die Textstellen:

Bei Perrault

Rotkäppchen lief sogleich davon, um zu seiner Großmutter zu gehen, die in einem anderen Dorf wohnte.

Bei Grimm:

Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf.


Die gefährdete junge Damen bei Perrault

Es gibt bei Perrault im Übrigen einen unzweifelhaften Hinweis auf das Alter, wozu man freilich die ans Märchen angehängte Moral lesen muss: Verblümt wird über die „Wölfe“, mit der junge Männer gemeint sind, dies gesagt (sinngemäß modern übersetzt)(1):

So gibt es welche, die vertrauensvoll wirken, sehr gefällig sind und auch von milder Wesensart, und die den jungen Frauen in die Häuser oder die Gassen folgen. Doch leider sind es gerade diese scheinheiligen Wölfe, die von allen Wölfen am gefährlichsten sind.


Somit ergibt sich unzweifelhaft, dass die Zielgruppe von Perrault junge Damen waren, die meist vom Land kommend, in der Stadt Beschäftigung suchten und sich dort vor Verführern schützen sollten. Die Folgen werden bei Perrault drastisch ausgemalt: Einmal vom Wolf „gefressen“, war das Leben zerstört, selbst dann, wenn es weiterging.

Das ungehorsame, romantische Mädchen bei den Grimms

Das deutsche Märchen nach Grimm ist eigentlich ein Plagiat des Perrault-Märchens. Es beinhaltet freilich eine ganz andere Moral, die von den Grimms deutlich ausgearbeitet wird, dun sie lautet: „Wehe, du gehst eigene Wege.“

Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.


Wie jedem Märchenkenner bekannt, wird das „Abkommen vom Weg“ bei den Grimms romantisch aufbereitet – dort verfällt Rotkäppchen in eine geradezu rauschhafte Seligkeit, als es sich an der Natur erfreuen darf. Diese Freude darf allerdings nicht anhalten, weil das Mädchen durch ihre "ungezogene" Haltung gegen die Weisungen der Mutter verstößt. Also nimmt das Schicksal zunächst seinen Lauf: Nach dem berühmten Dialog, der allen Rotkäppchen-Versionen eigen ist, wird das Rotkäppchen gefressen. Und um alle Leser, Eltern wie Kinder, dann noch einmal mit dem Märchen zu versöhnen, gibt es eine Wiedergeburt und ein „Happy End“.

(1) Original: Qui privés, complaisants et doux, Suivent les jeunes Demoiselles Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles ; Mais hélas ! qui ne sait que ces Loups doucereux, De tous les Loups sont les plus dangereux.