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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Die wahrhaftigste Wahrheit

Die Sektierer der heutigen Zeit haben Schwierigkeiten mit dem Begriff „Wahrheit“. Sie geben sich nicht damit zufrieden, dass es die Wahrheit“ über ein Thema nur in seltenen Fällen gibt, sondern sie suchen nach einer „absoluten“ Wahrheit.

Neulich sagte jemand, man müsse sich an die „Faktizität" halten. Das ist bildungssprachlich für „Nachweisbarkeit“ anhand von Tatsachen. Im Gegensatz dazu steht allerdings (gleichfalls bildungssprachlich) die „Logizität“, also eine Erklärung aus der Logik heraus.

Soweit der Text für alle „Klugscheißer“. Versuchen wir es jetzt mal ohne bildungssprachliche Schnörkel.

Die wahrhaftige Wahrheit existiert nicht

In der „wirklichen Wirklichkeit“ gibt es keine „wahre Wahrheit“, sondern immer nur die größtmögliche Wahrscheinlichkeit. Das gilt vor allem, wenn mit der Aussage über die Wahrheit auch Einschätzungen verbunden sind, und nicht nur, ob sie „richtig“ oder „falsch“ ist. Jede Bewertung verfälscht „die“ Wahrheit. Meine, deine oder gegebenenfalls unsere Wahrheit ist also immer ein wenig eingefärbt – manchmal sogar noch dann, wenn wir uns in den Grundzügen einig sind.

Die meisten Wahrheiten enthalten gewisse Restzweifel. Wir haben gelernt, damit zu leben. Möglicherweise haben wir auch erfahren, wie ungenau das „Nachmessen“ der Wahrheit ist, weil es keine Kriterien dafür gibt. Deshalb sagt man auch, dass es mutiger sein kann, das Bekannte zu bezweifeln als das Unbekannte zu erforschen. Die Kriterien für das Bekannte sind festgelegt, können aber falsch sein. Die Kriterien beim Beforschen des Unbekannten sind weitaus flexibler.

Radikale Ehrlichkeit

Ich wollte die Pressemeldung eigentlich in den Papierkorb werfen, weil sie eher eine PR-Aktion war.

Doch dann las ich dies:

Der Diplom-Psychologe rät daher, beim Online-Dating von jedem Versuch Abstand zu nehmen, sich vorteilhafter darzustellen als es der Wirklichkeit entspreche.


Nein, ich zweifle diesen Satz nicht an, weil ich die Aussage für falsch halte. Aber das Stichwort, über das ich gestolpert bin, ist „die Wirklichkeit“.

Die Wirklichkeit ist Gegenstand der Philosophie. Die einen sagen, dass es so etwas gäbe wie eine objektive Wirklichkeit: Du wankst halb trunken aus einem Restaurant und klatscht gegen die Glaswand, die du für den Ausgang gehalten hast. Klarer Fall: Da war wirklich eine Wand. Doch was wir sonst für die „Wirklichkeit“ des Lebens halten, ist nicht „wirklich“ wirklich. Es ist eine Vorstellung der Wirklichkeit, und sie ist (wenn überhaupt) nur durch Kommunikation verifizierbar.

Sehen wir uns wirklich im Licht der Wirklichkeit?

Und nun kommt noch hinzu: Wie sehen wir uns denn? Im Licht des eigenen Geschlechts? Im Licht des anderen Geschlechts? Im Lichte unserer Liebesaffären oder Kollegen? Wie klar und eindeutig ist denn das Bild, das wir von uns haben? Und ist es „wirklich“ objektiv? Kann es jemals „wirklich sein“? Wie willst du es verifizieren?

Wenn wir wissen, dass wir weder für uns noch für andere „eindeutig“ oder gar „radikal“ ehrlich sein können, sondern nur immer im Lichte unseres schwachen Kenntnisstands, sind wir dann wirklich ehrlich?

Gute Eigenschaften herauszustellen ist nötig

Und ist es tatsächlich so mies, die eigenen, meist als positiv betrachteten Eigenschaften herauszustellen? Ich hatte früher (ja viel früher) häufig mit Bewerbern zu tun. Natürlich verlangt man von ihnen Ehrlichkeit, soweit dies unter Menschen möglich ist. Doch eine der wesentlichen Fragen lautet: „Nennen Sie doch bitte drei Ihrer wichtigsten positiven Eigenschaften.“ Wahrscheinlich wisst ihr, dass die meisten unvorbereiteten Menschen nicht einmal das zustande bringen. Und dann sollen sie „radikal ehrlich“ sein?

Wer muss "radikal ehrlich" sein?

„Radikal ehrlich“ muss nur der sein, der sein Leben nicht im Griff hat und das gerne ändern würde. Alle anderen dürfen das sein, was sie sind: Persönlichkeiten mit mehr oder weniger Facetten – egal, auf was sie hinauswollen. Und selbstverständlich darfst du immer und jederzeit deine besten Eigenschaften in den Vordergrund stellen.

Unter anderem gelesen in der KRONE

Die Realität

„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, fragte der berühmte Paul Watzlawick in einem seiner weniger bekannten Werke. Oder um einen Schritt weiterzugehen: so etwas wie eine „Wirklichkeit“ existiert im zwischenmenschlichen Bereich nicht. Dort gibt es nur Sichtweisen, und wer wissen will, wie „wirklich die Wirklichkeit wirklich“ ist, muss über sie kommunizieren.

Als Beispiel können wir getrost mal die Ehe nehmen. Da kennen Sie sich alle aus, nicht wahr? Und schon geht’s los: Es gibt SEINE Realität, IHRE Realität und eine GEMEINSAME Realität, die nach und nach aus der Kommunikation beider aufgebaut wurde. Wer schon mal das Pech hatte, mit beiden befreundet zu sein, und dies nach einer Scheidung auch bleiben wollte, der weiß: Die gemeinsame Realität ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, und ganz ander Realitäten treten nun hervor.

Manchmal erleben wir Diskussionen um „die Realität“ – gerade im politischen Bereich ist dies höchst aktuell. AfD-Anhänger sehen plötzlich „alternative“ Realitäten, und sie bezichtigen Journalisten, „die“ Realität nicht korrekt abzubilden. Das passiert jeden Tag vor unseren Nasen. Und dennoch machen wir uns keine Gedanken über die Realität selbst.

Eine der Königsklassen, in die Schriftsteller aufsteigen können, besteht darin, die Realität so mit der Fiktion zu vermischen, dass wir Leser davon fasziniert sind. Da kommen Personen der Zeitgeschichte vor, da stimmen die Stadtpläne, das sagen Menschen Sätze, die man tatsächlich zu diesen Zeiten gehört hat. Das lassen wir mal so stehen, nicht wahr?

Was mich sehr verwundert: Die Menschen, die am wenigsten wissen, was Realitäten sein könnten und wie man sie für sich selbst bewahrheiten kann, reden am meisten davon, was Realitäten sind. Von Links bis Rechts, von der Dummbacke bis zum Universitätsprofessor.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Solange wir uns nicht ernsthaft darum bemühen, können wir es nicht wissen.

Der Vorteil des Alters

Ich habe etwas gewonnen, das Sie sich während des Berufslebens nicht leisten konnte (obwohl es manchmal so schien, als könnte ich): Eigensinn.

Befreien wir uns doch vom "Mainstream"

Ich kann es sagen - also sage ich es
Vor allem die ständige Frage: „Ist das, was ich zu sagen habe, mit den gängigen Mainstream-Einflüssen in Einklang zu bringen?“ ist inzwischen abgehakt – was interessiert mich der „Mainstream?“ Er wechselt die Richtung wie der Eselsschwanz im Wind. Ich habe schon so viele Wahrheiten, Dogmen und Direktiven gelesen und gehört, dass ich sie inzwischen als Tinnef identifizieren kann. Es ist wirklich so: Was die Wahrheit ist, bestimmen diejenigen, die gerade die Macht haben, etwas zu publizieren. Andere Wahrheiten? Da wird Ihnen schnell beschieden, dass es sie nicht gäbe. Obgleich offenkundig ist, dass es „die Wahrheit“ gar nicht gibt. Früher einmal durfte man darüber ganz anderer Meinung sein. „Wie Wirklichkeit ist die Wirklichkeit“ oder „Die Möglichkeit des Andersseins“ waren zwar keine Bestseller, aber bekannte Bücher bei kritischen Intellektuellen.

Der Niedergang der Wahrheit durch Mainstream-Einflüsse

Die Psyche ist eines der Themen, die irgendwann zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem neuen Jahrtausend versandet ist. Diejenigen, die über sie sprechen, wissen, dass sie nur Meinungen vertreten und und igeln sich damit ein. Wer die Prinzipien auch nur halbwegs verstehen will, wir die Psyche in Beziehungen und anderen Formen der Wirklichkeit beeinflusst wird, hat kaum noch Chancen. Am besten wäre wohl, ein bisschen Ronald D. Laing zu lesen, aber dessen Worte verlangen schon wieder ein Gedankengebäude, das an der Schule nicht gelehrt wird: Schichten der Wahrnehmung, Metawahrnehmung, Blackbox-Prinzipien. Um Himmels willen, wenn man darüber reden würde! Dann würde Freud ja ad absurdum geführt. Die technisch begründete Logik (Kybernetik) zog beispielsweise nie in die Psychologie ein - wie schade. Sie wäre sehr erhellend gewesen.

Ach, ich will gar nicht mit Ihnen philosophieren. Ich sage nur dies: Eigensinn ist etwas Wertvolles. Versuchen Sie doch einfach, mal etwas anderes zu denken, als das, was der Mainstream Ihnen vorgibt. Das können Sie auch schon tun, bevor Sie altern.