Skip to content
Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Rotkäppchen, die Romantik und die Moral

Junge Frau und böser Wolf in der Maske der Großmutter von Paul Woodroffe
Wie alt ist Rotkäppchen eigentlich, als sie zur Großmutter geschickt wird?

Die Frage, wie alt das Rotkäppchen sein könnte, das wir von den Grimms her kennen, wird sehr unterschiedlich beantwortetet. In einem Beitrag heißt es:

Die Geschichtenerzähler erwähnen selten das Alter der jungen Protagonisten. Wörtlich, doch die Illustratoren porträtieren sie irgendwo zwischen einem Alter von drei oder vier Jahren bis hin zum früher Teenageralter.


Nun gilt für viele Kinder, dass sie die Protagonisten als „Menschen ihres Alters“ empfinden. Die Vorstellung also, allein mit einem Korb voller Nahrungsmittel durch den dunklen, von wilden Tieren bewohnten Wald zu gehen, ist nicht altersgebunden. Ja, diese Furcht verfolgt viele Menschen bis weit ins Erwachsenenalter.

Auf der anderen Seite ist es sehr unwahrscheinlich, dass man ein Kind unter 12 Jahren durch den Wald oder „ins nächste Dorf“ schickt. Dazu die Textstellen:

Bei Perrault

Rotkäppchen lief sogleich davon, um zu seiner Großmutter zu gehen, die in einem anderen Dorf wohnte.

Bei Grimm:

Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf.


Die gefährdete junge Damen bei Perrault

Es gibt bei Perrault im Übrigen einen unzweifelhaften Hinweis auf das Alter, wozu man freilich die ans Märchen angehängte Moral lesen muss: Verblümt wird über die „Wölfe“, mit der junge Männer gemeint sind, dies gesagt (sinngemäß modern übersetzt)(1):

So gibt es welche, die vertrauensvoll wirken, sehr gefällig sind und auch von milder Wesensart, und die den jungen Frauen in die Häuser oder die Gassen folgen. Doch leider sind es gerade diese scheinheiligen Wölfe, die von allen Wölfen am gefährlichsten sind.


Somit ergibt sich unzweifelhaft, dass die Zielgruppe von Perrault junge Damen waren, die meist vom Land kommend, in der Stadt Beschäftigung suchten und sich dort vor Verführern schützen sollten. Die Folgen werden bei Perrault drastisch ausgemalt: Einmal vom Wolf „gefressen“, war das Leben zerstört, selbst dann, wenn es weiterging.

Das ungehorsame, romantische Mädchen bei den Grimms

Das deutsche Märchen nach Grimm ist eigentlich ein Plagiat des Perrault-Märchens. Es beinhaltet freilich eine ganz andere Moral, die von den Grimms deutlich ausgearbeitet wird, dun sie lautet: „Wehe, du gehst eigene Wege.“

Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.


Wie jedem Märchenkenner bekannt, wird das „Abkommen vom Weg“ bei den Grimms romantisch aufbereitet – dort verfällt Rotkäppchen in eine geradezu rauschhafte Seligkeit, als es sich an der Natur erfreuen darf. Diese Freude darf allerdings nicht anhalten, weil das Mädchen durch ihre "ungezogene" Haltung gegen die Weisungen der Mutter verstößt. Also nimmt das Schicksal zunächst seinen Lauf: Nach dem berühmten Dialog, der allen Rotkäppchen-Versionen eigen ist, wird das Rotkäppchen gefressen. Und um alle Leser, Eltern wie Kinder, dann noch einmal mit dem Märchen zu versöhnen, gibt es eine Wiedergeburt und ein „Happy End“.

(1) Original: Qui privés, complaisants et doux, Suivent les jeunes Demoiselles Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles ; Mais hélas ! qui ne sait que ces Loups doucereux, De tous les Loups sont les plus dangereux.

Schützt die deutschen Rotkäppchen – weg mit dem Wolf!

Das Mädchen ist nicht deutsch - das Märchen ist auch nicht deutsch. Und der Wolf?
Kaum etwas ist so deutsch wie der Wolf. Hat nicht der böse Wolf sowohl das Rotkäppchen (1) wie auch die Geißen gefressen? Und weil er’s tat, ist der Wolf inzwischen, obgleich verbürgt deutsch, der „böse Wolf“.

Und wie die „Obergrenze für Flüchtlinge“, so kommt nun auch die „Obergrenze für Wölfe“ ins Gespräch. „Wölfe endlich bejagen! Trau dich Deutschland!

Da wird doch der Wolf in der Pfanne verrückt. Ja, wenn man die Wölfe nicht bejagen würde, dann würden sie doch weiterhin Mädchen, Großmütter und Geißenkinder fressen, nicht wahr?

Den Grünen ist der Wolf als einzige Partei grün, die Sozialdemokraten denken moderat über den Isegrim und wollen sozial gerecht eher das Schaf schützen. Die Linken wollen die Außenseiter unter den Wölfen töten, gute sozial lebende Wölfe sollen hingegen geschützt werden. Die CSU erkennt in bayrischem Liberalismus ausnahmsweise das Lebensrecht des Wolfes an und mahnt daher „regulierenden“ für den Abschuss an. Nun ja, und die AfD hatten wir ja schon.

Blöd für den Wolf: Politiker von CDU und FDP lesen offenbar zu viel Grimms Märchen, was mich bei der CDU nicht wundert, bei der FDP hingegen schon. Oder sie sagen sich: Ach, der Wolf nützt ja nix in der Wirtschaft, den muss weg – was ebenfalls für andere Ansichten der FDP gelten mag – schlechte Karten, Jungs.

Fehlt nur noch: Schützt die Rotkäppchen! Schluss mit dem Morden durch Wölfe!

Und den Parteien empfehle ich, zu manchen Themen ihre entsetzlichen großen Mäuler zu halten und sich mit Themen zu beschäftigen, die sich wirklich lohnen.

(1) das Rotkäppchen ist zwar leider ein Import aus Frankreich, doch wer will das schon wissen?

Rotkäppchen – die Lügenbrüder Grimm und das Mädchen

Junge Frau in sinnlichem roten Umhang, verschlagener Wolf voller Begierde - Rotkäppchen
Es war zu den Zeiten, als den Franzosen noch alles Schlechte zugeschrieben wurde und den Deutschen alles Edle. Die Grimms versuchten, im Deutschtum herumzugraben und beschäftigten sich daher mit Märchen und Sagen, die zum Ruhme des deutschen Volkes verwendet werden konnten.. Die Brüder erweckten dabei den Eindruck, ihre Märchen dem Volk entrissen zu haben – und so hörten wir es nicht nur in der Schule, sondern können es auch bis heute nachlesen, wenn wir den unkritischen Quellen glauben.

Die Grimms haben selber dafür gesorgt, dass die wahre Herkunft ihrer Geschichten verschleiert wurde. Sie sagten beispielsweise, sie hätten als glaubwürdige Quelle „einfache Frauen aus dem Volke“ erzählen lassen, beispielsweise eine „Bäuerin aus dem bei Cassel gelegenem Dorfe Zwehrn.“ Es handelte sich um Dorothea Viehmann, einer Frau mit hugenottischen Vorfahren. Doch schon zuvor hatten die Grimms Kontakt zu anderen Frau mit hugenottischen Wurzeln: Marie und Johanna Hassenpflug sowie weiteren Mitgliedern der Familie Hassenpflug. Und was sie erzählten, hatte ihre Wurzeln nicht im „Hessischen“, sondern in Frankreich.

Die Grimmschen Lügenbrüder waren nicht dumm, sondern sehr belesene und gebildete Menschen, die gewusst haben müssen, was sie da aufschrieben – und der französische Ursprung eines der bekanntesten Märchen, Rotkäppchen, war ihnen sicherlich bewusst. Es klang natürlich besser, dieses Märchen dem deutschen Märchenschatz zuzuschreiben, wenngleich die französischen Wurzeln teils wortwörtlich erkennbar waren.

Die Brüder Grimm versuchten, dem Zeitgeschmack entsprechend, auch das Märchen vom Rotkäppchen kindgerecht, aber durchaus noch abschreckend darzustellen. Die Kinder sollten es gerne lesen, und dabei doch (nach damaliger Auffassung) kindgerecht belehrt werden. Der Wolf wurde ein leibhaftiger, böser Wolf, und kein Zweifel sollte an seiner Tiergestalt bestehen. Und um sich mit lesenden Kindern und Eltern zu versöhnen, musste es eine Wiedergeburt aus dem Bauch des Ungeheueres geben. Das Mädchen selbst wurde von einer neugierigen, heranreifenden Frau auf ein „kleines, naives Mädchen“ reduziert, das nicht wissen konnte „was für ein böses Tier“ ein Wolfs ist.

Was für ein Unsinn. Das Märchen „Rotkäppchen“ war nie eine Schöpfung des hessischen Bauernstandes, sondern es wurde bei dem Franzosen Charles Perrault abgekupfert – ob es abgeschrieben wurde oder ob es tatsächlich aus einer präzisen mündlichen Überlieferung der hugenottischen Erzählerin stammt, ist dabei völlig unerheblich. Die Brüder Grimm mussten sich nur dumm stellen – und schon konnten sie ihre Hände in Unschuld waschen.

Bild: Teil einer Illustration von Paul Woodroffe.

Quellen: Unter anderem: ZEIT, DW und eigenes Archiv.