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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Diskussionskultur und die Grenzen des freien Worts

Ich lege nicht alles auf die Goldwaage, was auf einer Buchmesse gesagt wird. Und doch fiel mir ein Satz auf, den ich zunächst nur als Zwischenüberschrift kannte (das Original zitiere ich am Schluss):

Auch das freie Wort hat dort eine Grenze, wo es in einem Kontext Dinge relativiert.

Gesagt hat es offensichtlich der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker – nach Vorfällen, die ich hier gar nicht erwähnen möchte. Es geht mir um das „freie Wort“ und sonst gar nichts, denn der Satz selber hatte es mir angetan.

Aus dem „bildungssprachlichen Rahmen“ herausgehoben, würde man etwa sagen:

„Das freie Wort hat eine Grenze, wenn es in einem Zusammenhang Meinungen oder Tatsachen in einem anderen Licht erscheinen lässt.“

Und damit bin ich bei meinem Thema - der Diskussionskultur.

Das freie Wort und die Veränderung der Sichtweise

Wenn das freie Wort nicht mehr gestattet ist, sobald dessen Inhalt etwas in „einem veränderten Licht“ erscheinen lässt – wozu sind dann Diskussionen noch nütze?

Jeder wird aus seinem Alltag wissen, dass es gerade die „Betrachtung in einem anderen Licht“ ist, die zu neuen, teils grundlegenden (und sehr positiven) Veränderungen geführt hat.

Relativieren heißt nicht wirklich, "den Wert herabsetzen"

Ich weiß natürlich, dass „relativieren“ in der Bildungssprache mehrere Bedeutungen hat. Denn es wird (leider) auch mit „in seinem Wert einschränken“ ins Deutsche übersetzt. Aber wann immer wir etwas „relativieren“ mussten, haben wir sie ja nichts „im Wert eingeschränkt“, sondern versucht, etwas in einem „anderen Licht darzustellen“.

Das lange Zitat, der Vollständigkeit halber

Was noch fehlt? Das verkürzte Zitat wurde schnell von Hand zu Hand und Feder zu Feder weitergegeben. Es fehlt also noch die Langversion (Zitat):

„Auch das freie Wort hat dort eine Grenze, wo es in einem Kontext Dinge relativiert, verharmlost und gleichsetzt, wo man sie nicht gleichsetzen kann“.

Es ging übrigens nicht um Dinge, sondern um Menschen, Meinungen und Ansichten.

Quelle (unter vielen) Börsenblatt.

Gefühle im Bildungsbürger-Deutsch: die Empathie

Heute bin ich - nicht zum ersten Mal - über die „Verwissenschaftlichung“ der Sprache gestolpert. Sie begann, als sich betuchte Bürger aus den (damals sehr teuren) Konversationslexika informierten und dieses Wissen oder Halbwissen dann bei Begegnungen lebhaft verwendeten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts steuern Psychologie und Soziologie zahllose Begriffe bei, deren Bedeutung eher „nebulös“ ist.

Unwort "Empathie"

Nun - mein Wort für heute war „Empathie“. Das Wort steht für eine Fülle von Gefühlen, die mit dem „Verständnis für andere“ zusammenhängen. Wahrscheinlich könnte man Buch über diese Vorgänge schreiben. Es würde von der Entstehung über die Möglichkeiten und Auswirkungen reichen bis zu den Prozessen, die nötig sind, um solche Gefühle zu haben, zu erfühlen oder zu übermitteln.

Das macht aber kaum jemand. Stattdessen wir plakativ behauptet, dies oder jenes sei „Empathie“.

Ei, ei - da ist Widerspruch angebracht - denn das Wort existierte bis weit nach 1900 nicht einmal im Bildungsbürgerdeutsch. Die Tatsache ist leicht, zu beweisen, weil es in den gängigen Konversationslexika fehlt. Bis etwa 1990 (!) kam es auch in der Presse kaum vor - und heute ist es zu einem Modewort geworden.

Ist das Etikett weg, steht der Begriff nackt da

Wenn man das Wort entzaubert und die „Verwissenschaftlichung“ wegnimmt, also das Etikett abzieht, entdeckt man dahinter einen großen Strauß von Gefühlen. Alle basieren mehr oder weniger auf dem Versuch, andere Menschen in ihrem Sein und Fühlen besser zu verstehen.Oder, wie jemand schrieb, die „schwierige und berechnende Aufgabe wahrzunehmen, sich in andere hineinzuversetzen. Das ist eine brauchbare Formulierung, die den üblichen „Gefühlskitsch“ vermeidet.

Erläutern statt Psycho-Geplapper

Der verlinkte Artikel zeigt, dass wir alle verlieren, wenn wir das übliche „Psychogeplapper“ verwenden. Was wirklich nötig ist? Wir müssen uns (auch wenn das sehr rational klingt) über die Prozesse klar werden, die wir benutzen, wenn wir Gefühle verstehen wollen oder von anderen in unseren Gefühlen verstanden werden wollen. Und nur nebenbei: „Verstehen“ ist erlernbar, und ebenfalls erlernbar ist, jemandem das Gefühl zu geben, verstanden zu werden.

Und was sagt uns das?

Je mehr wir Begriffe nachplappern, die wir nicht verstanden haben, umso mehr Schaden richten wir an. Wollen wir hingegen Nutzen stiften, so tun wir gut daran, die Hintergründe menschlicher Gefühlsregungen zu begreifen und unser Verständnis zu vermitteln.

Quellen und zum Weiterlesen:

Ausführliche Beschreibung der Empathie - Gedankenwelt.
Inflation des Begriffs: dwds
Häufigkeit und Verwendung heute: Uni Leipzig
Für Menschen, die sich mit Fremdwörtern schmücken wollen: Bildungssprache
Referenz Konversationslexika: Meyers, Leipzig 1994.



Victim Blaming - kein Deutsch, und trotzdem allgemein bekannt?

Heute habe ich einen kleinen Eindruck von akademischer Arroganz bekommen, den offensichtlich nicht einmal die Auslöserin bemerkt hat.

Es ging um „Victim Blaming“ - und die Fragestellerin meinte, dieses Wort sei ja nun wirklich „allgemein bekannt“.

Nein, ist es nicht. Ich habe mich „erboten“, morgen beim Einkauf von Brötchen die Bäckereiwarenfachverkäuferin zu fragen, ob sie das Wort kenne. Aber das kann ich mir sparen, denn der größere Teil der Bevölkerung in Thüringen versteht kein Englisch. Und von der englischen Sprache bis zu rechtswissenschaftlichen Begriffen ist es noch einmal ein weiter Weg.