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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Selbst verantwortlich? Was ist denn das?

Toxische Dating-Trends und fehlende Authentizität, so meinte jüngst eine Frauenzeitschrift (1), seien in der „heutigen Zeit oft gang und gäbe“. Das bedeute, so die Zeitschrift weiter, dass dies alles das Selbstbewusstsein und die „mentale Gesundheit“ belasten könne.

Gut, dass weiß die Redakteurin nicht aus eigener Anschauung. Sie las eine Umfrage der Dating-App Badoo.

Reden wir Klartext - wie gestaltet ihr eigentlich euer Leben?

Reden wir mal Tacheles, Mitmenschen. Da kommt nicht einfach das Schicksal um die Ecke und „macht etwas“ – jedenfalls nicht regelmäßig. Toxische Trends? Die werden überwiegend in sozialen Medien behauptet. Zieht man sich jetzt so etwas an? Oder zieht man oder frau sie an wie ein Magnet, und wenn ja, warum?

„Authentizität - Psycho-Geschwätz oder Psychologie?

Dann ist da wieder die „Authentizität“ – nichts als ein Modewort. Zwar existiert das Wort auch in manchen Zweigen der Psychologie, wo es so viel bedeutet wie das „echte Selbst“. Und das ist ziemlich einfach (2):

Handlungen entspringen dem eigenen Selbst und werden nicht von äußeren Einflüssen bestimmt. (Es schließt weiterhin ein) dieses wahre Selbst in sozialen Beziehungen offen zeigen zu wollen.

Selbstverantwortung - nein, danke?

Da schau, da schau – Frau oder Mann sind also in der Realität selbst dafür verantwortlich, wenn sie ihr „wahres Selbst“ präsentieren wollen. Wenn es ihnen also an sogenannter „Authentizität“ fehlt, dann haben sie entweder den Fehler gemacht, diese gar nicht erst zu entwickeln. Oder es ist ihnen schnuppe, ob sie „authentisch“ daherkommen.

Und was noch? Das Selbstbewusstsein fällt, weil versäumt wurde, eines zu entwickeln, das unabhängig von einzelnen Rückschlägen ist?

Macht mal halblang, Mitmenschen. Was da behauptet wird, ist Psycho-Buchstabensuppe. Oder das beständige Klagen darüber, das die Welt nicht so ist, wie sie sich die Selbstdarsteller(innen) der Dating-Szene ausgedacht haben.

Und in jedem Fall. Nachdenken schadet nicht wirklich.

(1) Aus Cosmopolitan.
(2) Dorsch - sehr neutral udn einfach erklärt
Deutlich komplizierter in "Spektrum".

Männer müssen sich ändern – warum eigentlich?

Aus allen Ecken tönt mir entgegen: Männer müssen sich ändern. Nicht nur aus den Kreisen der üblichen Verdächtigen, seien es nun Gender-Protagonisten (und -innen), sozialistische Fanatiker oder Extremfeministinnen.

Nur der totalitäre Staat kann Menschen zwingen, sich zu ändern

Kaum jemand bemerkt, dass sich Gruppen nicht bewegen lassen wir Marionetten – es sei denn im totalitären Staat.

Wollen wir das eigentlich? Können es Frauen wollen? Niemand glaubt, dass alle Frauen in der liberalen Gesellschaft gleichgeschaltet sind. Also sind es die Männer? Diejenigen, bei denen es nötig wäre, nun den Schalter umzulegen? Ich vergaß „Diverse“ – wer aus der LGBTQ*-Gemeinschaft glaubt ernsthaft, dass alle Mitglieder „über einen Kamm geschoren werden wollen“?

Leben mit Widersprüchen ist eher die Regel als die Ausnahme

In der heutigen Zeit sind wir alle, also Frauen, Männer, Diverse und auch alle anders Definierten, wechselnden, teils widersprüchlichen Strömungen ausgesetzt. Das ist ein Teil des Zeitgeistes, der für die meisten unvermeidlich ist. Denn wer am „wirklichen“ Leben teilhaben will, trifft auf alle Extreme und alles, was zwischen diesen Extremen liegt. Und er, sie oder wer-auch-immer wird lernen, darauf angemessen zu reagieren – oder das eigene Versagen in Kauf zu nehmen. Nur sehr wenige Angehörigen der genannten Gruppen können sich leisten, sich über alles hinwegzusetzen.

Das alle sind Fakten. Das alle ist Leben.

Ja, Männer müssen sich gegebenenfalls ändern. Und Frauen. Und Diverse. Und Contentschreiber wie auch Gas- und Wasserinstallateure (m/f/d). Anpassung ist ein immerwährender Prozess.

Und immer wieder: die Jugend aka "Generation Z"

Jeder Frau und jedem Mann über 50 ist klar: Mit der jüngeren Generation „stimmt was nicht“. Zu meiner Jugendzeit waren es „Exies und Rocker“, mit denen selbstverständlich nichts stimmte, weil sie nur an ihr Vergnügen dachten – ganz zu schweigen von den „Parasiten des Jazzkellers“, die zur „Entstaltung“ der schönen Nachkriegs-Bürgerwelt beitrugen.

Damals – gut, da gab es noch kein Internet. Und nur wenige Bücher, in denen die Jugend so rückhaltlos beschimpft oder derart oberlehrerhaft abgekanzelt wurden. Und heute?

Ich lese manchmal diese Artikel, die mit „Studien“ bestückt Beweise sammeln. Und so kam ich dieser Tage an einen Artikel des „Business Insiders“, den ich im Wortlaut wiedergebe:

Die Vertreter der Generation Z sind häufig Teil der öffentlichen Debatte, wenn auch nicht immer zu ihrem Vorteil. Dieser Diskussionsbedarf ist jedoch verständlich, da sie wie kaum eine andere Generation von Widersprüchen geprägt ist.

Was ist so eigenartig an der Generation Z?

Ich frage mich, wer sich da mit der „Generation Z“ beschäftigt hat. Der Autor oder die Autorin unterstellt zunächst, dass es eine „öffentliche Debatte“ über diese Generation gibt. Das klingt dann geradezu so, als würden sehr ernsthafte und wichtige Menschen älterer Generationen über jüngere Menschen urteilen, ohne mit ihnen zu reden. Und was wollen sie festgestellt haben? Was ist jetzt angeblich so anders? Ach nee – sie seien von „Widersprüchen geprägt“, was erstens noch recht normal in diesem Alter ist und zweitens durchaus dem Zeitgeist entspricht. Kaum jemand, der die Fähigkeit zum Denken hat, kommt ohne Zwiespälte und Widersprüche aus.

Versuchen wir mal, Tacheles zu reden: Die Geburtsjahrgänge zwischen 1997 und 2012 gehören angeblich der „Generation Z“ an. Das heißt, dass diese heute zwischen 11 und 26 Jahre alt sind. Die Vorgängergeneration (Y oder „Millenniums“) wäre demnach zwischen 27 und 42 Jahre alt. Erfahrungsgemäß wird die jüngste Generation aber nicht von den Vorgängern, sondern von der nächstälteren Generation kritisiert, also von den heute 43- bis 58-Jährigen.

Und nun bitte: Was soll das ganze Gerede über „die Jugend“? Ja sicher, einige von Ihnen arbeiten lieber in Teilzeit oder in Viertagewochen. Andere haben sich längst in den Zeitgeist eingeordnet und sahnen als private PR-Aktivisten (aka Influencer/innen) den Rahm ab. Der Rest findet noch nicht so recht zu sich selbst – auch das ist nicht neu.

Was ist dann eigentlich neu? Im Grunde gar nichts. Die neue Generation denkt anders – teils, weil ihr dies neue Möglichkeiten erschließt und teils, weil die alten Regeln nicht mehr taugen.

Zitat: Business Insider Der Artikel dort handelt teilweise von Jugendsexualität.

Was ist normal? Die Bibel, die Natur oder was denn nun?

Wenn Menschen heute über ihr geistiges, emotionales und soziales Dasein sprechen, dann fällt oft das Wort „normal“. Was gemeint ist, sind oft die Werte, die sie bewahren wollen. Und gelegentlichen auch die „Liebesordnung“, oder was sonst für „die guten Sitten“ gehalten wird.

Tatsächlich lässt sich darüber diskutieren – zum Beispiel aus ethischer Sicht. Einfacher: Gibt es irgendeine moralische „Normalität“? Eine klare Antwort gibt der „Deutsche Ethikrat“, denn …

Was als „normal“ aufgefasst wird, steht keineswegs fest, sondern ist kontextabhängig und zudem teils erheblichem Wandel unterworfen.

Gibt es wirklich nichts "Normales"?

Da ergibt sich die Frage: Was ist denn dann bitte normal? Fragt man mit Paul Watzlawick, so würde die Antwort heißen: So etwas wie „normal“ gibt es nicht. „Normal“ nennen wir, was wir miteinander vereinbart haben – entweder in kleinen Gruppen (Ehe, Familien, Organisationen) oder mit den meisten Menschen in unserer Gesellschaft.

Gibt es dennoch Maßstäbe?

Oft wird die Bibel als Maßstab genommen. Das ist schon im Grundsatz falsch, denn die Bibel zeigt uns eine Muster-Sittenlehre an Besipielen, die als Richtschnur dienen konnte – solange nichts Ungewöhnliches passiert. War dies doch der Fall, so änderte sich die Auffassung. Der zweite Mangel des „Alten Testaments“ dürfte jedem bekannt sein: Die vaterrechtliche Gesellschafts- und Besitzordnung verhindert gleiche Rechte für alle. Der Prinzipal, namentlich der wohlhabenden Grundbesitzer, konnte „schalten und walten“ wie er wollte – solange es „um alles, was seins ist“ ging – und „seins“ waren eben auch Menschen.

Auch die „Natur“ eignet nicht wirklich als Maßstab für „Normalität“. Die Natur selbst hat schon sehr unterschiedliche Spezies hervorgebracht. Und sie gefällt sich ebenso darin, immer wieder Abweichungen zu erzeugen. Selbst die Evolution weist uns keinen Weg zur „Normalität“, sondern immer nur zum nächsten Wandel.

Nichts ist, wie es ist - es ist, was du darüber denkst

Und was ist für den Einzelnen normal? Ich bin in einer weltoffenen Hafenstadt aufgewachsen. Was dort „normal“ war, hätte in einer schwäbischen, vielleicht gar pietistischen Provinzstadt Furcht und Schrecken erregt. Heute ist die Freiheit, zu sein, was wir sein wollen das Schreckgespenst der Menschen in kleinen Gemeinden. Sie sehnen sich nach wie vor danach, dass alle „irgendwie“ das Gleiche denken. Und das, was vermeintlich „alle“ denken, ist dann normal.

Nein, das ist es nicht. Wenn etwas „normal“ sein soll, müssen wir schon sagen, was wir unter „normal“ verstehen. Und auch dazu stehen, wenn wir selbst – zumindest innerlich – von dieser Normalität abweichen.

Zitat: Ethikrat.

Der Zeitgeist, die Lust der Frauen und die "Wissenschaft"

Dame im Tea-Gown. Üblicherweise zeigte sich eine Dame so "offenherzig" nur beim Nachmittagstee mit anderen Damen
Dieser Artikel mag den Menschen die Augen öffnen, die sich nach einer Normalität sehnen, die es angeblich einmal gab.

Jetzt – die lustvolle und zugleich befremdliche Freiheit

Zuerst wende ich mich an alle, heute unter 40 Jahre alt sind. An Frauen, die ihre geistige, psychische und erotische Freiheit genießen. Aber auch an Männer, die von alldem noch immer befremdet sind. Sie alle wurden in eine Zeit hineingeboren, in der „im Prinzip“ jedem alles möglich war, wenn man es nur wollte. Und weil dieser Artikel jetzt (2023) geschrieben wurde: Noch immer gibt es Frauen und Männer, die sich nach traditionellen Rollen sehnen, während andere die neuen Freiheiten erst jetzt wirklich auskosten wollen.

Vor 40 Jahren die Frauenemanzipation kommt auf leisen Sohlen

Drehen wir die Uhr zurück auf die Zeit der Menschen, die heute zwischen 41 und 60 Jahre alt sind. Das wären die Geburtsjahrgänge zwischen 1960 und 1980. Die wesentliche Entwicklung der Persönlichkeit wie auch der Sinnlichkeit liegt beim Jahrgang 1960 ungefähr zwischen 1975 und 1985. In dieser Zeit begann ein Wandel, der dazu führte, dass Frauen mehr und mehr als Persönlichkeiten angesehen wurden. In der Theorie setzte diese Entwicklung schon zu Anfang der 1970er-Jahre ein, doch bis sie sie durch in der Realität ankam, dauerte es einige Jahre. „Emma“, die damals wichtigste Publikation zum Thema, wurde beispielsweise erst 1977 gegründet. Man kann diese Zeit als „instabilen Wandel“ bezeichnen, weil nicht ganz sicher war, welchen Weg die damaligen Frauen und Männer einschlagen würden. Wenn wir auf das aktuelle Datum schauen, hat sich vieles „normalisiert“ – doch auch ein Teil der Unsicherheit ist geblieben – und dies gleichermaßen bei Frauen und Männern.

Vor über 60 Jahren – klare Rollen für Frauen und Männer

Wieder drehen wir an der Uhr: Die heute 61- bis 80-Jährigen kennen noch eine Welt, in der die Frauen- und Männerrollen klar definiert waren. Das bedeutete: Frauen wurde abgesprochen, eigene Entscheidungen über ihre Entwicklung zu treffen. Die Schulzeit war kurz, die Berufswahl einseitig. Von jungen Mädchen wurde erwartet, dass sie Ehefrau und Mutter wurden. Man hörte oft den Satz: „Warum sollte sie Abitur machen, sie heiratet doch sowieso bald?“ In Deutschland (West) hatte man sich ohnehin an die Welt des frühen 20. Jahrhunderts angehängt. In Deutschland (Ost) war die Ideologie anders, aber im Inneren wirkte das Bürgertum weiter - in nahezu jeder Familie. Zurück zur damaligen Bundesrepublik. Hier spielte man „gute alte Zeit“, in der ein Mann fleißig Geld nach Hause schaffte, während die Frau für, Kinder, Religion und Ernährung zuständig war. Alle wussten, dass diese Positionen keine Zukunft hatten, aber die meisten machten dabei mit. Jedenfalls so lange, bis die ersten Jugendrevolutionen auf den Westen zurollten und das Wertesystem kurzzeitig ins Wanken geriet.

Zurück in die Zeit der tugendhaften Frauen

Gehen wir noch weiter zurück? Ich denke, wir sollten es dann und wann tun. Die „gute alte Zeit“ war für Frauen eher eine Epoche, in der sie hinter den Fassaden des Bürgertums verschwanden. Im Grunde waren Töchter, die im Haus der Eltern verharrten, sogar lästig. Waren sie schön und keusch, so bestand wenigstens die Möglichkeit, dass sie jemand „aus Liebe“ nahm. Hatten sie aber einen Makel oder wirkten sie farblos, so versuchten die Väter, einen Ehemann gegen Zahlung einer beträchtlichen Mitgift zu finden. Schließlich sollte die Braut dem interessierten Mann finanziell nicht zur Last fallen.

Die Dämme gegen die Lust brechen - doch die Wissenschaft verschleiert dies

Gegen Ende das 19. Jahrhunderts brachen einige dieser Dämme. Viele Autorinnen schrieben damals in Anklängen von der erotischen Begierde, die junge Frauen in Lyzeen und insbesondere in Internaten entwickelten, beispielsweise Franziska Gräfin zu Reventlow (1898). Ich zitiere:

Das moderne junge Mädchen ist fast durch die Bank demi-vierge, wenn es die Schule verlässt. Es ist auch kaum anders möglich bei der starken Betonung des Sexuellen (… ) in Schule und Pension wird die Neugier geweckt und gesteigert …“

Im Jahr 1904 erschien dann „Nixchen. Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Töchter“, der für die damalige Zeit absolut skandalös war: Eine junge Frau ist einem Herrn aus bestem Stand vermittels einer Konvenienzehe versprochen. Daran ändert sich nichts , jedoch will sie nicht „unberührt“ in die Ehe gehen - und das wird sie auch nicht. Die Sache wird dadurch besonders pikant, dass der Autor der Novelle zwar angibt, „Hans von Kahlenberg“ zu sein. In Wahrheit stammt die Schrift aber aus der Feder von Helene von Monbart. Die Fassaden begangen zu bröckeln, und die „höheren Töchter“ (meist adlige Damen) wussten sehr genau, wie sich Leidenschaft erzeugen und befriedigen ließ. Sogar jene, die nicht zu den „besseren Kreisen“ gehörten, wussten mehr als ihre Mütter und Väter ahnten.

In einer kleinen Episode der Novelle, von der ich spreche, wird deutlich, wie dies zustande kam:

Man hat ja seine Musikstunden, Kurse, die Schneiderin zum Anprobieren. Das System funktioniert vorzüglich. Eine geheime Konnivenz (Nachsicht) blickte durch (vermutlich geduldet durch die) Angst, Schülerinnen zu verlieren. Kundschaft einzubüßen.

Die „Wissenschaft“ biegt sich die Realitäten zurecht

Die „Wissenschaft“ der damaligen Zeit folgte allerdings einem anderen Bild: der „tugendhaften“ Frau, die in „allem rein“ ist.
All dies wurde durch „die Wissenschaft“ gestützt. Zunächst ein Zitat zur Erziehung von Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts:

Eine tugendhafte Frau sollte nicht nur körperlich rein sein. Sie sollte auch über einen reinen Geist verfügen – und deshalb muss wie vollständig ferngehalten werden von all diese tugendlosen Gedanken.

Schauen wir ein paar Jahre weiter, so treffen wir auf den Arzt William Andrus Allcorr (1856). Er versucht nicht einmal, wissenschaftliche Fakten zu sammeln, sondern beruft sich auf „Volkes Stimme“:

Wie allgemein bekannt, hat die Frau in ihrem ursprünglichen Wesen, also unverdorben, unberührt und gesund, selten - wenn überhaupt - ein sexuelles Verlangen. Sie unternimmt auch keine Schritte, die auf ihr sexuelles Verlangen hindeuten - aus dem ganz einfachen Grund, dass sie ein solches Verlangen nicht spürt.

Der forensische Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1886) stellt sich ähnlich auf: Auch er beurteilt „das Weib“ nicht nach dem, was er wissenschaftlich ermittelte, sondern nach dem Hörensagen und der Annahme einer „anderen sexuellen Organisation“ der Frau:

Ist (das Weib) geistig normale entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliche Verlangen ein geringes. Jedenfalls ... Ist das Weib, das welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht (eine) abnorme Erscheinung (...) Das Weib verhält sich passiv. Es liegt dies in seiner sexuellen Organisation und nicht bloss in den auf dieser fussenden Geboten der guten Sitten begründet.

Erstaunlich ist, dass Krafft-Ebing durchaus gelesen hatte, was der Franzose Ali Coffignon ermittelt haben wollte: Jener nennt ca. 1890 verschiedene Konstellationen, unter denen Mädchen und Frauen zur lesbischen Liebe verführt wurden, unter anderem durch das „Zusammenschlafen weiblicher Dienstboten im selben Bett“ und die „Verführung in Pensionaten durch verdorbene Zöglinge.“

In der Welt der "Wissenschaftler" sind "verdorbene Zöglinge" verantwortlich

Die „verdorbenen Zöglinge“ ziehen sich durch die gesamte angeblich „wissenschaftliche“ Literatur. Was vermittelt werden soll, wird klar: Die jungen Frauen sind genau das, was die Gesellschaft von ihnen erwartet: keusche, rein und edel - also frei von erotischen Gedanken. Wenn … ja wenn da nicht neue Tendenzen wären, die diese Lehrmeinung stört. Und nun beginnt die Schuldzuweisung: Es gibt offenbar Frauen, die das Gift des sexuellen Verlangens ausstreuen - und sie sind die Verursacher dieser Tendenz. Zuletzt dazu der Schweizer Psychiater Auguste Forel (1904). Er sieht durchaus, dass die Annahmen „seiner“ Wissenschaft auf keinen Fall mit der Realität übereinstimmt, korrigiert seine Einstellung aber nicht. Auch er versucht, einzelne Insassen für die verbreitete Masturbation und die lesbische Liebe verantwortlich zu machen, wie in diesem Zitat:

Einen eigentümlichen Einfluss auf das Geschlechtsleben üben alle Internate, das heißt, alle Institute, wo ein und dasselbe Geschlecht in intimer Weise für längere Dauer in einer größeren Anzahl zusammenlebt. Also solche sind alle Klöster und Internatsschulen, wie zum Beispiel die französischen Lyzeen, zu erwähnen. Die große Schattenseite all dieser Institutionen liegt in der Gefahr der Ansteckung der Insassen durch onanistische und homosexuale Gewohnheiten.

Aus dieser Zeit stammen noch andere Vorurteile über Frauen – doch das Problem liegt nicht darin, dass es Vorurteile und Vorverurteilungen gibt. Die gibt es immer, und wir können nur wenig dagegen tun. Die eigentliche Schwierigkeit, ja, der eigentliche Skandal liegt bei den Wissenschaftlern, die sich dem „guten Bürgertum“ verpflichtet fühlten und deren Vorurteile verbreiteten.

Bild: Nachgearbeitete Illustration aus einer Zeitschrift um 1900.
Begriffe: Lyzeen waren zur damaligen Zeit "Schulen für höhere Töchter", meist als Internate.Eine Konvenienzehe war eine Ehe, die nach dem sozialen Stand der Partner geschlossen wurde. Meist einigte sich der Brautvater mit dem in Aussicht genommen Ehemann über die Bedingungen der Heirat.


Nachtrag: Alles, was ich hier schreibe, kann auch politisch ausgelegt werden. In jüngster Zeit versuchen rückwärtsgewandte Kräfte, in der Vergangenheit eine "Normalität" zu finden - sie sagen aber nicht, wann es jemals so etwas wie eine "Normalität" gab.

Weitere Informationen über Internate und Sexualität. In diesem Artikel werden auch die Quellen angegeben.