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Dem liberalen Geist eine Stimme geben - das ist sehpferd

Bildungsbürger , Suchmaschinen, Lexika und Authentizität

Dieser Tage musste ich wieder grinsen: Für die Unterbelichteten, ich schrieb es bereits, ist der erste Eintrag in der Lieblingssuchmaschine die „Wahrheit“. Aber es gibt eben auch die Bildungsbürger, die mit Schlagworten herumwerfen. Für sie liegt die Wahrheit in der deutschsprachigen Version des Lexikons Wikipedia.

Nichts gegen das Lexikon an sich. Es ist, wie es ist. Doch dieser Tage stellte mir jemand die Frage nach „Absoluter Authentizität“.

Bildungssprachlich - das Herumferkeln mit Begriffen

Wie immer, wenn jemand beim Menschsein nach „absolut“ fragt, biegen sich bei mir die Zehennägel, und mit dem Begriff „Authentizität“ kann jeder herumferkeln, wie er will – was im Übrigen typisch für „bildungssprachliche“ Begriffe ist. Man sucht die „größtmögliche Authentizität“, auch wenn man kaum weiß, ob eine Person wirklich „authentisch sein kann“. Bei einem Text ist es einfacher: Da kann man prüfen, ob er „authentisch“ ist, also in höchstem Maße glaubwürdig. Wobei denn „glaubwürdig“ einer der besseren Übersetzungen des Fremdworts ist.

Die Psychologie bleibt skeptisch bei "Authentizität"

Die Psychologie, die das Wort ebenfalls zu definieren wagt, sagt, dass es sich um die „unverzerrte Verarbeitung selbstbezogener Informationen“ (1) handelt. Doch auch die Psychologie zweifelt daran, ob „unverfälscht“ zu sein beim Menschen überhaupt funktioniert. Die Evolution jedenfalls hat uns nicht mitgeben „sei unverfälscht“. Ein anders Lexikon sagt, etwas esoterisch behaucht, der „authentische Mensch“ sei vom „mit sich Einssein“ (2) behaucht, was ebenso fragwürdig ist. Despoten aller Art wären dann auch authentisch, was im Übrigen der Haken bei dem Begriff ist: „Authentisch sein“ kann zum Guten wie zum Bösen hinneigen.

Der Aufstieg eines Wortes durch Küchenpsychologie, Esoterik und Internet

Aufschlussreich ist in solchen Fällen immer mal ein Blick ins „DWDS“ (3), in dem man die Dinge sprachlich angeht. Und siehe da: Je mehr sich das „Bildungsbürgertum“ für Psychologie (und später für Esoterik) interessierte, und je mehr selbst ernannte Gurus mit dem Wort ins Internet gingen, desto häufiger wurde das Wort gebraucht. Oder eben missbraucht.

Das "wahre Gesicht" zu zeigen, war einstmals gefährlich

Ein Dichter der Vergangenheit hätte wahrscheinlich geschrieben, dass jemand „sein wahres Gesicht zeigte“ (natürlich „auch ihr wahres Gesicht“). Das galt in Zeiten, als Gefühle noch nicht in aller Munde waren und es sich um eine besondere Situation handelte, indem jemand seine Maske ablegte und zu seinen Bedürfnissen stand. Es war übrigens zu manchen Zeiten nicht ungefährlich, dies zu tun.

(1) Dorsch
(2) Spektrum
(3) dwds

Die angeblichen Eliten und ihr Wissen

Heute ist es wieder einmal passiert: Da schrieb jemand durchaus in meinem Sinne, dass wir heute zu oberflächlich argumentieren und „man glaube plausibel Klingendes, ohne es zu hinterfragen“ und überhaupt „frage man nicht mehr.“ Es las sich, als bedaure es der Autor /die Autorin.

Aber dann stand da noch ein Satz: „Klassische Bildung ist überhaupt kein Thema“.

Dieser Teilsatz hat mich dann dazu gebracht, den Begriff „klassische Bildung“ zu hinterfragen, denn in der heutigen Zeit ist es schwer, mit solchen pauschalen Oberbegriffen („Klassische Bildung, „klassische Musik“, „klassische Literatur“) noch etwas anzufangen. Also sollte es sich lohnen, nachzufragen oder den Begriff selbst zu „hinterfragen“. Und ich erlaubte mir, nachzufragen:

Was versteht du unter klassischer Bildung?

Als Antwort erhielt ich einen Link zu Wikipedia, wo mich Herr von Humboldt streng ansah. Der Artikel wirkt, wie so oft bei Wikipedia, in verstörender Weise unverständlich und enthält tatsächlich den Begriff, der sich letztlich auf eine bestimmte Bildungstheorie beschränkt, die als „klassisch“ definiert wird.

Nur: Danach hatte ich überhaupt nicht gefragt.

Gebildete Kreise nutzen oft abgenutzte Phrasen

Und nun erschließt sich, wie in manchen angeblich „gebildeten“ Kreisen oftmals diskutiert wird. Nämlich mit Phrasen, die dort bekannt und angeblich „klar definiert sind“, die aber keinen Ausschluss darüber zulassen, was wirklich gemeint ist. Die selbst ernannten Eliten werfen mit Begriffen herum, mit denen sie sich hervortun wollen – das mag ihr gutes Recht sein. Aber es verhindert den gesellschaftlichen Dialog.

Damit noch etwas weniger Ernstes in diesen Artikel kommt, hier ein Auszug aus „Meyers Lexikon“ von ca. 1890:

(Bildung) … wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwickelung des Menschen gebraucht. In dieser Anwendung ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, teilt es mit den meisten Lieblingswörtern desselben das Schicksal, dass sein Gepräge, wie bei einer abgegriffenen Münze, sich verwischt hat und sein Sinn vieldeutig geworden ist.


Ein letzter Satz? Es kann durchaus kühner sein, etwas zu hinterfragen, als etwas zu behaupten.